Studium Informationswissenschaft
Virtuelles Handbuch Informationswissenschaft
7. Der Gegenstand der Informationswissenschaft
Exkurs: Informationswissenschaft als postmoderne Wissenschaft.
Wersigs Sicht der Informationswissenschaft
Heiko Biehl
A. Gernot Wersigs Sicht der Informationswissenschaft
Gernot Wersig ist Professor für Informationswissenschaft an der Freien Universität in Berlin. In einem Kapitel seines Werks „Fokus Mensch“ stellt er seine Auffassung dieser neuen Disziplin und der Probleme und Hindernisse, die bei der Etablierung eines neuen Fachs auftreten, dar. Die angestellten Überlegungen weisen jedoch weit über die Problematik hinaus, mit der sich die Informationswissenschaft konfrontiert sieht. Große Teile dieser Passagen berühren die Wissenschaft und den Wissenschaftsbetrieb an sich.
Der Stil des Textes ist stark essayistisch. Wersig benutzt häufig das Bild des „Stuhls“(„zwischen den Stühlen“, „Lehrstühle, Ministersitze, Wartezimmerstühle, Fernsehsessel“(S. 150) usw.). Bei der Rekapitulierung seiner Gedanken soll auf die Übernahme dieses Stilelements verzichtet werden, um die Darstellung für den Leser zu erleichtern. Gernot Wersig stellt seine Arbeit unter folgende Leitfragen:
- Welche Probleme stellen sich für eine neue wissenschaftliche Disziplin -insbesondere für die Informationswissenschaft- bei ihrer Etablierung in den traditionellen Fächerkanon?
- Welche theoretischen und methodischen Probleme ergeben sich für die Informationswissenschaft?
- Welche Theorien hat die Informationswissenschaft bisher entwickelt und wie sollte sie bei der Suche nach neuen Theorien vorgehen?
Diese Fragestellungen sollen ebenfalls den Aufbau dieser Arbeit gliedern.
B. Informationswissenschaft als Artikulation neuer Wissenschaft
B.1. Die Probleme einer neuen Wissenschaft
Gernot Wersig unterteilt die (inhaltlichen) Schwierigkeiten einer neuen Disziplin in zwei Problemfelder:
B.1.a. Die Neuartigkeit der Fragestellungen
Weniger die Neuartigkeit des Problems als vielmehr die Neuartigkeit seiner Behandlung (also der Fragestellung) ist für den Autor das entscheidende Kriterium einer neuen Wissenschaft. Wissenschaft wird somit verstanden als die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen. Diese neuen Fragen passen nicht mehr zu den alten Disziplinen. Sie lassen sich mit den Methoden und Theorien der etablierten Wissenschaften nicht mehr beantworten. Deshalb werden Probleme verdrängt, deren Aufarbeitung von größter gesellschaftlicher Notwendigkeit wäre.
B.1.b. Die fehlende Anerkennung
Neue Wissenschaften tun sich generell schwer mit ihrer Etablierung. Sie müssen sich gegen ältere Disziplinen behaupten und durchsetzen. Dabei sind die Eifersüchteleien und kleinlichen Schachereien im Wissenschaftsbetrieb schwerlich zu überschätzen. Mit besonderen Schwierigkeiten hat dabei die Informationswissenschaft zu kämpfen. Dies liegt an ihrer Thematik, ihrem Erkenntnisgegenstand: dem „Wissen“. Wissen ist integraler Bestandteil aller Disziplinen und somit wird auch jede von der Informationswissenschaft tangiert. Diese Wissenschaft liegt quer zu den anderen Fächern und nimmt eine Sonderstellung ein. Gernot Wersig formuliert deshalb, die Informationswissenschaft ist „ein im traditionellen Fächerkanon nicht vorgesehener Fall“ (S. 151). Sie unterscheidet sich nicht nur in ihrem Inhalt von den traditionellen Fächern, sondern auch in ihrer Struktur.
Im folgenden lehnt Wersig den Begriff der Informationsgesellschaft wegen seiner fehlenden Präzision ab und kritisiert, daß die häufige Verwendung der Vokabel Information diesen Begriff zum „Mythos der Postmoderne“ (S. 152) gemacht hat.
B.2. Methoden- und Theorieprobleme
Der Autor gesteht einen Theorie- und Methodenmangel der Informationswissenschaft zu. Um dieses Manko zu überwinden, versucht er „neue“ Wege des wissenschaftlichen Arbeitens aufzuzeigen. Zuerst appelliert er an die Verwendung des „gesunden Menschenverstandes“ (S. 151). Den Vorwurf der Fehlerhaftigkeit des Menschen weist er zurück, da diese Fehlerhaftigkeit nur die andere Seite von Flexibilität und Kreativität ist. Man muß dieses Vermögen nutzen, etwa durch Synergieeffekte im Verhältnis Mensch-Maschine. Außerdem lehnt er die Vorstellung vom „homo rationalis“ oder „homo oeconomicus“ ab, da der Mensch nicht einfach, sondern komplex strukturiert ist, und nicht nur nach rein ökonomischen Präferenzen handelt.
Gefordert ist vielmehr die Überprüfung älterer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die zu anderen Zeiten unter anderen Bedingungen gewonnen wurden. Als Beispiel dient ihm das Sprichwort: „Wissen ist Macht!“ Aber sind die Wissenden heutzutage auch die Mächtigen? Oder gelangen die Mächtigen nicht umgekehrt leichter in den Besitz von Informationen als die Machtlosen, also „Macht ist Wissen!“ (S. 155).
Stellt man nun ältere wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage, dann gilt es erst recht, althergebrachte Konzepte zu hinterfragen und zur Diskussion zu stellen. So erscheint die Einteilung von Kommunikationsträgern in die Klassen Massen- bzw. Individualkommunikation aufgrund des Aufkommens sog. neuer Medien recht fragwürdig.
Nach Wersig lassen sich die Wissenschaften in zwei Grundrichtungen, in zwei Arten unterteilen:
- Die Sozial- und Geisteswissenschaften
- Die Ingenieur- und Naturwissenschaften
Beide Richtungen beschäftigen sich mit dem Aufkommen neuer Kommunikationsmittel, der Information und den technischen Bedingungen. Jede Disziplin sucht sich jedoch ihr Teilproblem aus einem größeren Themenkomplex aus und beleuchtet somit immer nur ein winziges Segment einer Problematik, die nur durch die Gesamtschau zu begreifen und zu bewältigen wäre. Die Natur- und Ingenieurwissenschaften stellen neue Apparaturen zur Verfügung und die theoretischen Grundlagen zur Entwicklung dieser neuen Techniken. Unberücksichtigt bleiben die Auswirkungen dieser Innovationen. Der Benutzer wird mit dem neuen Medium zumeist allein gelassen. Die hierdurch auftretenden Akzeptanzprobleme neuer Techniken scheinen somit wenig verwunderlich.
Auf der anderen Seite bieten die Sozialwissenschaften zumeist nur Kritikmuster und zeigen schädliche Auswirkungen der neuen Techniken auf. Es gibt wenig ernsthafte Technikfolgenabschätzung und noch seltener geben die Geisteswissenschaften Anleitungen zum konstruktivem Umgang mit technischen Neuerungen.
Sozial- und Naturwissenschaften stehen somit unvermittelt nebeneinander. Wersig nennt die Lücke, die sich zwischen den beiden Wissenschaftsrichtungen auftut, „Grauzone“. Hier tummeln sich nach seine Worten „Verkäufer, Propheten und Scharlatane“ (S.157) und recht wenig ernsthafte und ernstzunehmende Wissenschaftler.
Genau diese Grauzone soll aber der Wirkungsbereich der Informationswissenschaft sein. Sie bewegt sich im Spannungsverhältnis: Wissen-Informationstechnik-Mensch. Wersig legt seinen Schwerpunkt in dieser Triangel auf den Menschen, also auf die Technikfolgenabschätzung. Somit erhält die Informationswissenschaft eine größere Nähe zu den Sozial- als zu den Naturwissenschaften. Folglich definiert der Autor die Informationswissenschaft „als die Wissenschaft von der Wissensnutzung unter den Bedingungen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auf allen Ebenen- individuell, organisatorisch, kulturell, gesellschaftlich“ (S.160).
B.3. Ein neuer Methoden- und Theorieansatz
Nach Wersig entstand die Informationswissenschaft aus drei verschiedenen Quellen, und diese brachten jeweils ihre eigenen Methoden und Theorien in die Informationswissenschaft ein:
Die Kommunikationswissenschaft
Aus dieser Disziplin übernahm man das Kommunikationsparadigma und methodisch die empirische und experimentelle Kommunikationsforschung.Die Wissenschaft vom Wissen
Sie beschäftigt sich mit der technischen Präsentation und Repräsentation von Wissen.Die Technik
Wersig sieht die Technik als „Hilfsmittel der Wissensorganisation“ (S. 160) an.
Aus diesen Wurzeln erwachsen vier (mögliche) Methodenkomplexe der Informationswissenschaft:
- Die Kommunikationsanalyse
- Die Wissensstrukturanalyse
- Die Technikeinsatz- und folgenforschung
- Die informationelle Wirkungsabschätzungen
Mit Hilfe dieser Methoden kann der Informationswissenschaftler zu Erkenntnissen gelangen. Wersig nennt diese Erkenntnisse Konzepte und unterscheidet zwei Großgruppen von Konzepten:
-
Weitreichende Konzepte
Dies sind Theorien, die einen großen Geltungsbereich besitzen, der möglichst räumlich und zeitlich unabhängig ist. Zu solchen Erkenntnissen gelangen vornehmlich die Naturwissenschaften. Der Verfasser lehnt es ab, von der Informationswissenschaft zu verlangen, sie solle solche weitreichende Konzepte liefern. Einerseits hält er die Disziplin für noch zu jung, andererseits bezweifelt Wersig die Möglichkeit der Erlangung solcher Konzepte für den Bereich der Informationswissenschaft generell.
-
Interkonzepte
Vielmehr verlangt der Autor von seiner Wissenschaft, sie solle Interkonzepte entwickeln. Solche Theorien stehen quer zu den traditionellen Wissenschaften. Sie haben Phänomene zum Gegenstand, die dem Zugriff durch ein einzelnes Fach entzogen sind. Erkenntnisgegenstände solcher Art sind etwa das Wissen, das Bild, die Inszenierung oder der Lebensstil. Wersig führt vier Gründe für die Enthaltsamkeit der Wissenschaft in der Beschäftigung mit diesen Erscheinungen an:
- „Sie sind mit den klassischen wissenschaftlichen Methoden kaum greifbar.“
- „Sie liegen quer zu den etablierten Wissenschaftsdisziplinen, die sich jeweils nur bruchstückhaft und ausschnittsweise mit ihnen beschäftigen.“
- „Sie sind so alltagsverwoben und damit so vertraut, daß sich eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen nicht aufdrängt.“
- „Sie sind durch diese Konstellation so komplex, daß einzeldisziplinäre Theorien für sie nicht greifen.“(S.164f.)
Wie diese Auflistung zeigt, gehen Interkonzepte weit über das oftmals geforderte interdisziplinäre Wirken hinaus. Sie entstehen nicht aus einem Zusammenarbeiten von verschiedenen Wissenschaften, sondern jede Disziplin fügt einen integralen, d.h. für die Gesamttheorie unbedingt notwendigen Teil des Konzepts bei. Solche Interkonzepte können somit auch von einem Wissenschaftler erstellt werden, wenn dieser es versteht, die Methoden der verschiedenen Disziplinen auf sein Problem anzuwenden und diese integrierend zu einem Interkonzept zusammenzufügen.
Wersig schlägt zwei Arbeitsmethoden zur Erstellung von Interkonzepten vor:
- Das historische Moment
Dieser Ansatz ist nicht zu verwechseln mit der Vorgehensweise der Geschichtswissenschaft. Vielmehr plädiert der Autor, in Anlehnung an Foucault, für eine Handlungsweise, die ihren Erkenntnisgegenstand aus seiner Entstehung und Entwicklung zu verstehen versucht. - Die synoptische Phänomenologie
Diese Arbeitsweise basiert auf der Erkenntnis, daß es eine generell verbindliche Vorgehensweise für die Informationswissenschaft nicht geben kann. Vielmehr soll versucht werden, aus einer Vielzahl von „Belegen, Fällen und Beispielen“ (S.165) ein „Argumentationsnetz“ zu spannen, das in der Lage ist, die eigene These zu tragen.
Wersig versteht die Erstellung von Interkonzepten als „transdisziplinäre Fokussierung“, ist sich allerdings im klaren, daß diese Arbeit größtenteils „einzelkämpferisch“ geleistet werden muß.
C. Die postmoderne Wissenschaft
Der Verfasser versteht die Informationswissenschaft vornehmlich als postmoderne Wissenschaft. Wersig legt Wert darauf, daß der wissenschaftliche Aspekt erhalten bleibt, d.h. die Argumentationen müssen logisch nachvollziehbar sein, die Ergebnisse müssen intersubjektiv überprüfbar sein und als Basis sollen empirischen Erhebungen dienen.
Der postmoderne Aspekt liegt darin begründet, daß die Informationswissenschaft ein Fach darstellt, das sich nicht mehr eindeutig zwischen andere Fächer einreihen läßt. Vielmehr liegt die Informationswissenschaft quer zu den anderen Disziplinen. Sie enthält Teile von ihnen und tangiert durch ihren Erkenntnisgegenstand, das Wissen, jede von Ihnen. Verankert ist die Informationswissenschaft wiederum in der „Grauzone“ zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften auf der einen und Natur- und Ingenieurwissenschaften auf der anderen Seite.
Somit unterscheidet sich die Informationswissenschaft fundamental von den sog. modernen Wissenschaften. Diese entstanden zumeist durch eine Abspaltung von einer anderen Disziplin. Diese Entwicklung führte immer mehr zu einem Spezialistentum, das für die gesellschaftlich drängenden Probleme keine Lösung mehr anbieten konnte. Die Informationswissenschaft als postmodernes Fach versucht diesem Trend entgegenzuwirken und so mehr der gesellschaftlichen Hilfsfunktion von Wissenschaft gerecht zu werden.