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Virtuelles Handbuch Informationswissenschaft

Einführung in die (Informations-)Systemanalyse

Einführung in die Systemwissenschaften

Heinz-Dirk Luckhardt

Komponenten/Eigenschaften von Systemen

Systemelemente stellen die Bausteine eines Systems dar, zunächst eine lose, unzusammenhängende Sammlung.

Erst die Beziehungen zwischen Systemelementen machen ein System zum System. Sie können materieller oder nichtmaterieller Natur sein, sind meist kausale Ursache-Wirkungsbeziehungen und schaffen eine gewisse Dynamik.

Grenze – Identität eines Systems

Die Systemgrenze ist eines der Kriterien, die die Identität eines Systems bestimmen. Grenzen determinieren, fordern die Unterscheidung: was gehört dazu – was nicht? Schon in der Bibel war die Unterscheidung das fundamentale Ordnungskriterium (Buch Genesis: … und Gott schied Licht von Finsternis, Land von Meer …). Input und Output eines Systems geschehen über bzw. durch die Systemgrenzen. Dazu gehören z.B. der Austausch von Stoff, Energie und Information und die Einwirkung äußerer Faktoren: Temperatur, Strahlung. Beispiele für Grenzen sind: Eiserner Vorhang, Haut als Körpergrenze, Höchstgeschwindigkeit beim Auto (als funktionelle Grenze), Lebensalter.

Funktionen eines Systems

Die fundamentale Frage: „Wozu gibt es das System?“ hängt einerseits mit dem Existenzgrund (oder besser Existenzgründen) des Systems zusammen. Andererseits weisen die Antworten auf diese Frage auf mögliche Funktionen des Systems hin. Solche Funktionen eines Systems können etwa sein:

  1. Aufrechterhaltung eines stabilen Zustandes (Homöostase) z.B.: Blutdruck
  2. Selbsterhaltung (biologische Systeme). Dazu zählen Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, …
  3. Fortpflanzung und Vermehrung sind essentielle Funktionen von biologischen und sozialen Systemen.
  4. Sicherheit, Schutz
  5. Herstellung von „Produkten“
  6. Systeme als „Dienstleister“ (Transport, Kommunikation)
  7. Stiftung von „Sinn“

Zeitliches Entwicklungsverhalten

Dynamik und Stabilität sind notwendige Gegenpole in Systemen. Eine der hervorragenden Eigenschaften eines Systems ist seine Stabilität über die Zeitachse, d.h. ein System bleibt erhalten, solange seine Identität besteht. Das bedeutet nicht, dass es sich nicht wandelt. Im Gegenteil, Dynamik, d.h. Veränderung, ist eine konstitutive Eigenschaft von Systemen. Man unterscheidet verschiedene Dynamiken:

fließende vs. katastrophale Dynamik. Eine „katastrophale Dynamik“ bedeutet immer einen abrupten Übergang in einen komplett anderen Systemzustand.

deterministische vs. chaotische Dynamik: Mit deterministischer Dynamik ist gemeint, dass das dynamische Verhalten in gewisser Weise berechenbar und damit längerfristig vorhersagbar ist (Bewegung der Himmelskörper). Chaotische Dynamik bedeutet, dass es keine exakte Prognose gibt. Chaotische Prozesse kann man pointiert so skizzieren: kleine Ursache – große Wirkungen! Chaos (als Gegenteil von Ordnung) ist ein Urzustand, in dem alles möglich ist und alles demnach gleich wahrscheinlich. Chaos wird auch verstanden als Gleichwahrscheinlichkeit aller möglichen Verbindungen unter den Elementen. Die Grundidee chaotischen Verhaltens ist die Bifurkation : Verzweigung, Weggabelung, Entscheidung über 2 völlig verschiedene Fortsetzungen (z.B. Luftströmung an einem Flugzeugflügel vorbei).

Dynamik kann in numerischen Systemmodellen simuliert werden. Simulation ist eine der wesentlichsten Maßnahmen zum Verständnis von dynamischen Prozessen.

Weitere bestimmende Faktoren der Systemhaftigkeit

Geschlossene / offene Systeme

Ein offenes System hat Beziehungen zu seiner Umwelt, d.h. es gibt Input und Output über die Systemgrenze hinweg. In einem geschlossenen System gibt es keine Beziehungen zu einer Systemaußenwelt bzw. das Systemmodell hat gar keine Außenwelt. Geschlossene Systeme haben keinen Input und keinen Output. In der Praxis sind letztere kaum möglich und können am ehesten als Modellvorstellungen existieren.

Teilsysteme und Obersysteme

Jedes Element eines Systems kann selbst als ein ganzes System (Teilsystem, Subsystem) aufgefasst werden; jedes System kann selbst Element eines übergeordneten Systems (Obersystem, Supersystem) sein; Subsysteme und Supersysteme können können ganze Systemhierarchien bilden.

Wie kann man Systeme darstellen?

Lineare Texte vs. vernetzte Systemstrukturen

Texte sind linear – sequentiell strukturiert als Abfolge von Worten und Sätzen. Demgegenüber besitzen Systeme in der Regel eine netzwerkartige Struktur mit vielen Verbindungen, die sich nicht so ohne weiteres in eine lineare Sequenz auflösen lassen (=> Darstellung als Hypertext !).

Systemmodelle

Systeme werden modellhaft dargestellt, z.B. als Wirkungsdiagramme, Baupläne, Funktionsgraphen, Landkarten, Funktionsskizzen, mechanische Modelle, Computersimulationsmodelle, …

Wirkungsdiagramme (causal loop diagrams)

Wirkungsdiagramme bestehen aus Knoten (Systemelemente) und Pfeilen (Beziehungen zwischen den Elementen, kausale Ursache-Wirkungsbeziehungen). Aus Wirkungsdiagrammen kann man indirekte Wirkungen und Wirkungskreisläufe (Rückkoppelungskreise) ablesen.

Zeitgraphen

Zeitgraphen beschreiben die zeitliche Entwicklung einer oder mehrerer quantitativer Systemgrößen im Laufe der Zeit (Ergebnis quantitativer Simulationsmodelle).

Rückkoppelungen

Rückkoppelungen sind das zentrale Konzept zum Verständnis der Stabilität und des Wandels von Systemen. Rückkoppelung bedeutet die Rückwirkung von Wirkungen auf die Ursache (Rückkoppelungskreise, Wirkungskreise, causal loops). Es gibt grundsätzlich drei Grundtypen von Rückkoppelungskreisen:

  • Eskalierende („positive“) Rückkoppelungen
  • Stabilisierende („negative“) Rückkoppelungskreise
  • Indifferente Rückkoppelungskreise

Grundtypen von Rückkoppelungskreisen

Eskalierende („positive“) Rückkoppelungen

Prinzip: je mehr (als Ursache) – desto mehr (als Wirkung), also je weniger – desto weniger und je mehr – desto mehr. Dargestellt als “ X = + > Y“ = je mehr (weniger) X, desto mehr (weniger) Y

Stabilisierende („negative“) Rückkoppelungskreise

Typus: je mehr (als Ursache) – desto weniger (als Wirkung) also je weniger ( als Ursache ) – desto mehr (als Wirkung) und je mehr – desto weniger. Dargestellt als „X = – > Y“ = je mehr (weniger) X, desto weniger (mehr) Y

Indifferente Rückkoppelungskreise

entstehen dann, wenn nicht alle Wirkungsbeziehungen im Rückkoppelungskreis eindeutig positiv oder negativ sind.

Zeitliche Verzögerung in Rückkoppelungskreisen

Schwingungen deuten i.a. auf zeitliche Verzögerungen in negativen Rückkoppelungskreisen hin, Prototyp: „Schweinezyklus„:

Schweinepreis hoch => Bauern erhöhen die Zahl der Jungferkel => mehr Ferkel werden aufgezüchtet => nach einer gewissen Zeit kommen mehr Ferkel ins schlachtreife Alter => mehr Angebot => Preis für Schweinefleisch sinkt => Bauern reduzieren die Zahl der Jungschweine => nach einiger Zeit sinkt die Menge des angebotenen Schweinefleisches => Preis für Schweinefleisch steigt => hoher Schweinepreis motiviert Bauern, verstärkt in die Schweinezucht zu gehen => …

Anderes Beispiel: Lehrerausbildung (längerfristig)

Es werden Lehrer gesucht => Viele Abiturienten beginnen ein Lehrerstudium => Nach einiger Zeit schliessen viele ihr Studium ab => Viele finden keine Stelle => Weniger studieren => Nach einiger Zeit gibt es zu wenige Absolventen => Es werden viele Lehrer gesucht => …

Nach diesem Prinzip wäre vielfach das antizyklische Denken angesagt, was z.B. bedeuten würde, dass eine Abiturientin dann eine Lehrerinnenausbildung beginnt, wenn es viele Absolvent(inn)en gibt. Das funktioniert natürlich nur dann, wenn nicht Alle so denken.

Indirekte Wirkungen – Wirkungsketten

Beispiel Heroinhandel:

Beschaffungskriminalität   = + > Razzien 
Razzien                    = + > beschlagnahmtes Heroin 
beschlagnahmtes Heroin     = - > Heroin am Markt 
Heroin am Markt            = - > Heroinpreis 
Heroinpreis                = + > Beschaffungskriminalität 
 

Diese vereinfachte Darstellung zeigt einige Wirkungen innerhalb des Systems „Heroinhandel“. Die mit „+“ bezeichneten Wirkungen sind von „eskalierender“ Art: je mehr – desto mehr, je weniger – desto weniger. Die mit „-“ bezeichneten Wirkungen sind „stabilisierend“, d.h. je mehr – desto weniger, je weniger – desto mehr. So führt z.B. mehr Beschaffungskriminalität zu mehr Razzien, mehr Razzien zu mehr beschlagnahmtem Heroin, mehr beschlagnahmtes Heroin zu weniger Heroin am Markt, weniger Heroin am Markt zu einem höheren Heroinpreis, ein höherer Heroinpreis zu mehr Beschaffungskriminalität.

Sieben Denkfehler im Umgang mit komplexen Problemen

(vgl. Günther Ossimitz, Einführung in die Systemwissenschaften, http://www.uni-klu.ac.at/~gossimit/lv/usw00/skr/kap21.htm#28)

Problemlöseschritt und Denkfehler

  1. Abgrenzung des Problems

Probleme sind objektiv gegeben und müssen nur noch klar formuliert werden.
  1. Ermittlung der Vernetzung

Jedes Problem ist die direkte Konsequenz einer Ursache.
  1. Erfassung der Dynamik

Um eine Situation zu verstehen, genügt eine „Photographie“ des Ist-Zustandes.
  1. Interpretation der Verhaltensmöglichkeiten

Verhalten ist prognostizierbar, notwendig ist nur eine ausreichende Informationsbasis
  1. Bestimmung der Lenkungsmöglichkeiten

Problemsituationen lassen sich «beherrschen»; dies ist lediglich eine Frage des Aufwandes.
  1. Gestaltung der Lenkungseingriffe

Ein „Macher“ kann jede Problemlösung in der Praxis durchsetzen.
  1. Weiterentwicklung der Problemlösung

Mit der Einführung einer Lösung kann das Problem endgültig ad acta gelegt werden.

statt dessen gilt es, zur …

  1. Abgrenzung des Problems

die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, verschiedene Standpunkte zu einer ganzheitlichen Abgrenzung zu integrieren.
  1. Ermittlung der Vernetzung

die Beziehungen/Interaktionen/Kreisläufe zwischen den Elementen einer Problemsituation zu erfassen und in ihren Wechselwirkungen zu verstehen
  1. Erfassung der Dynamik

die zeitlichen Aspekte der einzelnen Beziehungen und einer Situation als Ganzem zu ermitteln. Gleichzeitig ist die Bedeutung der Beziehungen im Netzwerk zu erfassen.
  1. Interpretation der Verhaltensmöglichkeiten

künftige Entwicklungspfade zu erarbeiten und in ihren Möglichkeiten zu simulieren.
  1. Bestimmung der Lenkungsmöglichkeiten

die lenkbaren, nichtlenkbaren und zu überwachenden Aspekte einer Situation in einem Lenkungsmodell abzubilden.
  1. Gestaltung der Lenkungseingriffe

entsprechend systemischen Regeln die Lenkungseingriffe so zu bestimmen, dass situationsgerecht und mit optimalem Wirkungsgrad eingegriffen werden kann.
  1. Weiterentwicklung der Problemlösung

Veränderungen in einer Situation in Form lernfähiger Lösungen vorwegzunehmen.
 

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