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Virtuelles Handbuch Informationswissenschaft

Informationsgesellschaft und Informationskultur

Perspektiven der Informationsgesellschaft: die zukünftige Rolle der Wissensinstitutionen

Heinz-Dirk Luckhardt

(nach Gernot Wersig)

(Quelle: ein Vortrag Wersigs auf der Tagung des Instituts für Information und Dokumentation (IID), der Gesellschaft für Fortbildung, Forschung und Dokumentation (gGFFD) und der Gesellschaft der Absolventlnnen und Freundlnnen des Lehrinstituts für Dokumentation e.V. (GAFLID) „Was geht, was bleibt, was kommt? Die Dokumentation – eine Profession mit Zukunft“, Potsdam. 8. September 2000. Printversion in: Nachrichten für Dokumentation (nfd) 51 (8/2000), 461-465)

Inhalt

Gernot Wersig, Informations- und Kommunikationswissenschaftler an der Freien Universität Berlin, hält die vorherrschende Definition der Informationsgesellschaft als „informationstechnische“ Gesellschaft für falsch:

„Im Vordergrund der eigentlich erst seit Anfang der 90er Jahre laufenden Diskussionen um die Informationsgesellschaft steht interessanterweise weniger eine Konzeption von „Information“ als der Verweis auf die Informationstechnik….

Aber auch frühere Phasen der Informationsgesellschaft sind von Schlüsseltechnologien geprägt gewesen, ohne dass man diese Technologien schon mit Gesellschaft gleichgesetzt hätte – wer hat schon von der Elektrizitätsgesellschaft, der Automobilgesellschaft oder der Anti-Baby-Pillen-Gesellschaft geredet – alles Technologien, die Leben drastisch verändert haben?“

Wersig betrachtet „Informationsgesellschaft“ eher als politisches (Macht-) und ökonomisches Phänomen mit den zentralen Begriffen Meinung, Information und Wissen. Die „politische“ Sicht ist die der Informations- und Meinungsfreiheit, die die Ursprünge der Informationsgesellschaft bereits in den Freiheitskämpfen des frühen 19. Jahrhunderts sieht und die sich gewissermassen mit dem Erreichen der „informationellen Selbstbestimmung“ (Bundesverfassungsgericht) vollendet. Die „ökonomische“ Sicht beinhaltet aus informationswissenschaftlicher Perspektive insbesondere eine Verarmung des Informationsbegriffs als rein technische Größe (Menge der übertragenen Daten) und eine Reihe von Problemen wie das Zuschütten der eigentlichen Information durch die große Masse der „Nichtinformation“. Eine weitere zentrale Frage ist die nach dem Umgang mit „Wissen“ und dem Aufkommen neuer Kulturtechniken (in Ergänzung der Kulturtechnik „Lesen gedruckter Werke“) in der Informationsgesellschaft (siehe auch den Beitrag von Rauch). Dabei nennt Wersig v.a. zwei Problembereiche: die besonderen Probleme der Wissensgesellschaft (Wissensbewertung, -recherche, -filterung und -bewahrung) und die Dokumentation und Bewahrung von Kultur in der Informationsgesellschaft (siehe auch den Beitrag von Schumacher). Hier ergeben sich neue und größere Aufgaben für die traditionellen Wissensinstitutionen (Dokumentationsstellen, Archive und Bibliotheken), vgl. Kap. „Informationskultur als gemeinsame Aufgabe von Wissenschaft und Wirtschaft„.

Im folgenden in Auszügen (Originalzitate) die Argumentation Wersigs:

Informationsgesellschaft und Macht

Die Geschichte der Informationsgesellschaft beginnt … viel früher als die der IT – der Kampf um Demokratie vom Beginn des 19. Jahrhunderts an konzentrierte sich auf den Kampf um die Presse- und Meinungsfreiheit, also um Information, die ein zentrales Instrument von Bürgerrechten wurde …

Interessanterweise ist diese zentrale Position der Freiheit der Information auch in einer Doppelfigur mit Ökonomie und Macht verbunden, die – in gewandelter Form – bis heute erhalten ist: Pressefreiheit erforderte die Freiheit der Anzeigenplatzierung …, damit die Presse die ökonomische Basis erhielt, die sie zu einem breiten Massenphänomen machen konnte, sie erforderte aber auch die Aufhebung der Vorzensur als Einschränkung politischer Macht….

Die Informationsgesellschaft in diesem Sinne war spätestens 1961 mit dem ersten Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts … erreicht: Freie Presse, Freiheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vom Staatszugriff und damit staatsfreier Informationszugriff durch den Bürger war gesichert. … Das mit der Verfassung erkämpfte Brief- und Fernmeldegeheimnis wird in den 70er Jahren auf den „Datenschutz“ ausgedehnt, bis in den 80er Jahren das Bundesverfassungsgericht die „informationelle Selbstbestimmung“ sicherte.

In all diesen Fragen ging es darum, dass das Handeln von Menschen und Machthabern von Kenntnissen abhängt – im einen Fall als „Meinung“, im anderen Fall als „Daten“ bezeichnet, als „Information“ werden sie im öffentlichen Bewusstsein erst angesprochen, als sie rechtlich abgesichert und gewissermaßen selbstverständlich waren. Die Entwicklung der Informationsgesellschaft war also bis in die 70er Jahre eine Auseinandersetzung, die sich im Wesentlichen auf der Machtebene abspielte, von nun an übernahm die andere Seite der Doppelfigur die Initiative – die Ökonomie.

Informationsgesellschaft und Ökonomie

Gerade die wirtschaftlichen Interessen bringen den Gesichtspunkt „Information“ ein: Mit dem Argument der Informationsvielfalt wird die Zahl der Radio- und Fernsehprogramme, die überwiegend Wiederholungen senden, vervielfacht, das Internet, die Datenautobahnen, UMTS (und vieles mehr) werden mit dem Argument der Informationsbereitstellung und des unbegrenzten Informationszugangs forciert. Alle diese Bestrebungen zeichnen sich aus durch

  • große Anteile längst bekannter Inhalte
  • große Anteile falscher, unaktueller, unzutreffender Inhalte
  • große Teile beeinflussender Inhalte (wie Werbung)
  • große Anteile rein unterhaltender Inhalte
  • große Anteile reinen Geschwätzes, Unsinns und Spiels….

Nach fast allen begrifflichen Fassungen von „Information“ ist das überwiegende Merkmal dieser Inhalte „Nicht-Information“, ihre Deklarierung als „Information“ bedient sich der nachrichtentechnischen Reduktion des Informationsbegriffs durch Shannon auf die reine Bitmenge, die übertragen wird. Damit wird alles, was telekommunikativ übertragen werden kann, unabhängig von seinem Handlungsbezug „Information“, die Forderung nach Informationsfreiheit wird konsequenterweise transformiert in eine Forderung nach Freiheit und Ausbau (möglichst staatsgefördert) der Ubertragungswege.

Die für die Transformation des modernen Staatsverständnisses so einflussreiche Viererbande von Liberalisierung, De-Regulierung, Privatisierung und Kommerzialisierung führt zu einer Gleichsetzung aller Kommunikation unabhängig davon, was kommuniziert wird. Aus der Mangelerscheinung „Information, die etwas bedeutet“ wird eine Uberflusserscheinung, in der Bedeutung keine Rolle mehr spielt: über 1.000 Stunden Radio- und Fernsehprogramm pro Tag, wo immer man in Europa ist, Milliarden von Seiten im WWW, Zehntausende von Chats und Newsgroups – und das neben mehreren Hunderttausend lieferbaren Büchern, Hunderten von Zeitschriften, Dutzenden von E-Mails, Voice-Nachrichten,Telefaxen pro Person und Tag. Wir ersticken in dieser „Information“ und haben immer größere Schwierigkeiten, einerseits die Information zu identifizieren, die man für sein eigenes Handeln braucht, andererseits sich mit den abzugebenden Informationen gegen die konkurrierenden Informationen zu behaupten.

Gleichzeitigkeit von Überschuss und Mangel

Dies ist einer der Grundwidersprüche dieser Zeit: Das Ubermaß an Angeboten verdeckt die eigentliche Information und behindert gezielte Informationsvermittlung.

Während das Informationskonzept … dem Zugriff der Technokraten, Vereinfacher, Absahner ausgeliefert wurde und konsequent seiner visionären und utopischen Potentiale – Verringerung von Ungewissheit … – beraubt wurde, hat sich das Wissenskonzept ganz gut gehalten. Der Angriff der Informatiker auf das Konzept mit der Wissensverarbeitung ist gescheitert, weil sie den Mund zu voll genommen haben und weil – im Unterschied zu „Information“ … alle Menschen wissen, was Wissen ist, oder wenigstens wo es ist.

Wissensumgang und Kulturtechnik

Der entscheidende Punkt dürfte … die Technisierung des Wissensumgangs geworden sein und damit eine neue Phase der Entwicklung von Kulturtechniken. Wissen erfordert über Jahrhunderte die Kulturtechnik Lesen, als diese allgemein über das Bildungssystem verfügbar war, wurden ökonomische Zugangsbarrieren durch öffentliche Bibliotheken und Lesestellen sowie konsequente Kommerzialisierung verringert. Das neue auf IT aufmodulierte Wissen trifft derzeit auf zwei wesentliche ähnliche Barrieren: Die Kulturtechnik des Betriebs von vernetzten Computern ist nicht natürlich verbreitet, sie wird im Unterschied zum Lesen auch immer nur graduell angeeignet werden. …

Aber das wird sich ändern: Die Verbreitung der Kulturtechnik wird zwar nicht gerade gepusht, aber sie entwickelt sich doch einigermaßen, die beste Technik wird auch noch einfacher werden.

Probleme der Wissensgesellschaft
  • Bewertungsproblem: Wie unterscheidet man Wissen, das etwas taugt, von all dem Geschwätz und Werbekram, mit dem es unterschiedslos zusammengemischt wird?

  • Rechercheproblem: Wie identifiziert man Wissen im Ozean der sogenannten Information? Diese Frage ist nicht identisch mit dem Retrieval-Problem, wie es sich in den letzten 30 Jahren entwickelt hat, das sich auf isolierbare Items konzentriert, sondern Wissen setzt immer das Navigieren und Orientierung in Zusammenhängen voraus, die nur mühsam begrenzt werden können.

  • Filterproblem: Wie kann man in der Flut des herangetragenen Materials so agieren, dass möglichst viel Geeignetes und möglichst wenig Ungeeignetes in die realzeitlichen Operationen eindringt?

  • Bewahrungsproblem: Wie reduziert man die Ströme des informationsgesellschaftlichen Geplappers auf die Bottiche wertvollen Wissensgebräus, das die Abfüllung auf Flaschen lohnt?

Undokumentierte Kultur

… das Web ist weitgehend undokumentiert und teilt damit das Schicksal von etwa der Hälfte der Kultur des 20. Jahrhunderts, in dem auch ganz große Teile von Radio- und Fernsehinhalten für immer verloren sind. …

Spätestens das Web stellt in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar, die die Wissensinstitutionen (dazu rechnet Wersig Dokumentationsstellen, Archive, Bibliotheken (Ergänzung des Webautors)) zu gemeinsamer Aktion herausfordert:

  • als gemeinsames Objekt des Sammelns, Bewahrens, Erschließens

  • als eine Plattform für die Präsentation ihrer Wissensordnungen und -zugänge, bei denen aufgrund der gemeinsamen Oberfläche auch kein Grund eines gemeinsamen Auftretens mehr notwendig ist (an das dann andere Wissensvermittlungseinrichtungen anschließen könnten – Antiquariate, Newsgroup-Register etc.). Viele Leute, die Wissen suchen, wollen nicht Bibliotheken, Archive oder Dokumentationsdienste benutzen, sondern wollen etwas wissen, egal von wem es kommt.

  • als Platz, an dem sie ihre Vorsprünge, die sie in der Wissenserschließung haben, insofern verwerten können, als sie zu den spezifischen Wissensportalen werden, die den Einstieg liefern in ein Sachgebiet.

  • als Herausforderer, der den realen Institutionen virtuelle entgegensetzt – virtuelle Bibliotheken und Museen gibt es schon, die Welt wird immer angefüllter mit ungepflegten und vergammelten Archiven, das Web selber ist eine gigantische, unzuverlässige und irreführende Dokumentationswelt. Leitfiguren sind hier dringend notwendig.

Die Informationsgesellschaft nahm auf diese Institutionen keine besondere Rücksicht, sie entwickelte sich an ihnen vorbei und nun hecheln sie ihr hinterher. … Die Wissensgesellschaft braucht Orientierung in Wissenszusammenhängen, die Zusammenführung aller einschlägigen Wissensquellen, die individuelle und mediale Zulieferung von Wissen unabhängig von seiner materiellen Verfasstheit.

 

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