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Diskussionsbeiträge

Informationswissenschaftlicher Reader

Kommunikation

Internet im Widerstreit

Internet im Widerstreit

Ein Medium zwischen kollektiver Intelligenz und virtuellem Marktplatz

by Beat Mazenauer


Internet im Widerstreit

Ein Medium zwischen kollektiver Intelligenz und virtuellem Marktplatz

by Beat Mazenauer

Es lebe der amerikanische Traum! Die Zukunft der digitalen Datenströme im World Wide Web, auf dem sich leichthin surfen lässt! Doch wie der freizeitliche Wassersport bei mangelnder Übung in die Beine geht, so ist auch dieses globale Netz nicht ohne Tücke. Zum einen verunsichern system-immanente Flauten wie War-testaus, Abstürze und Sicherheitslecks. Zum anderen kann das ziellose Hüpfen von einem Verbindungsknoten zum nächsten enervieren – immer schön reihum und kaum in die Tiefe. Deshalb bedarf es für den Surfplausch im eigentlichen wie im übertragenen Sinne spezieller Techniken. Wer sie nicht erlernen will, fällt ins Wasser oder klinkt sich gelangweilt aus.

Dem Internet gehört die Zukunft, sagen die Auguren. Das globale Datennetz bildet das Kernstück der viel beschworenen Informationsgesellschaft. Doch was für ein Gesicht wird diese Zukunft haben? Auf welche Weise wird der virtuelle Globalraum die realen gesellschaftlichen Beziehungen verändern, beeinträchtigen? Mit dem für ihn typischen skeptischen Optimismus hat der Medienphilosoph Vilém Flusser darauf eine Antwort zu skizzieren versucht. Die künftige Fabrik, schreibt er, sehe aus wie eine Schule, an welcher „homo faber zu homo sapiens sapiens werden wird, weil er erkannt haben wird, dass Fabrizieren dasselbe meint wie Lernen, nämlich Informationen erwerben, herstellen und weitergeben.“ (Flusser 1993, 75)

Schön wärís, denken die einen, wehe wenn, durchzuckt es die anderen. Was immer von Flussers Idee zu halten ist, wir werden wohl lernen müssen, mit dem Internet umzugehen. Ganz pragmatisch, so wie sich Walter Benjamin dem Medienwandel im Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ gestellt hat: um das Vergehende trauernd, aber nicht ohne Engagement für die Zukunft. Es bleibt keine andere Wahl, weil sich Wirtschaft und Politik mittlerweile darauf verständigt haben, das Internet zum Leitmedium des 3. Jahrtausends aufzuwerten und „weltweit“ durchzusetzen. Die Clinton-Administration hat ihm sowohl in seiner ökonomischen wie erziehungspolitischen Agenda erste Priorität eingeräumt. Entsprechend unternimmt auch die Wirtschaft bedeutende Anstrengungen, um aus dem Internet eine virtuelle Werbebroschüre mit integraler Einkaufstüte zu basteln: Konsumtainment sozusagen. Doch noch scheint dieses World Wide Business-web, Bill Gatesí fesselnde kapitalistische Verwertungsutopie, nicht voll ausgebaut und ganz gefestigt. Aktuelle Diskussionen und Manifeste lassen erahnen, dass sich noch Einspruchsmöglichkeiten bieten, für die der Spielraum freilich bald zu klein sein dürfte.

Das Internet – hierin liegt eines seiner irritierendsten Merkmale – ist weder gut noch schlecht, weder reaktionär noch progressiv, weder anarchisch noch totalitär – sondern zuerst einmal global und in seiner Funktionsweise unbegreiflich. Auch MacLuhans Motto „the medium is the message“ ändert nichts daran, dass es als digitale Plattform den verschiedensten Interessen zu Dienste steht, so wie sie sich einst der neuen Drucktechnik bemächtigten, um lutherische wie jesuitische Brandreden zu verbreiten. Gerade diese Ambivalenz evoziert aber wie jeder paradigmatische Medienwandel zwei polare Gefühlslagen: Angst und Euphorie. Während die einen bereits die künftigen Gewinne extrapolieren, bilanzieren die anderen den Verlust an kulturellen Werten.

„Die kalifornische Ideologie“

Auch wenn sich das neue Medium „neutral“ gibt, bergen seine Organisation und sein Gebrauch ein erhebliches ideologisches Potential. Deregulierer und Anti-Etatisten im Umkreis der amerikanischen Konservativen haben dies früh erkannt. Nicht zufällig nennt sich Newt Ging-rich selbst guten Glaubens einen „Revolutionär“. 1994 hielt die in seinem Umkreis entworfene Magna Carta for the Knowledge Age fest: „Die Bedeutung von Freiheit, die Strukturen der Selbstverwaltung, die Definition von Besitz, die Natur des Wettbewerbs, die Bedingungen für Zusammenarbeit, der Sinn der Gemeinschaft sowie die Natur des Fortschritts wollen für das Informationszeitalter je neu definiert werden.“ Ohne falsche Bescheidenheit waren damit die ideologischen wie ökonomischen Verteilkämpfe um das weltweite Datennetz, um den virtuellen Marktplatz eröffnet. Ihre hegemonialen Bestrebungen bekräftigte die „Magna Carta“ umgehend mit der Verpflichtung, auf dem Netz „den amerikanischen Traum zu erneuern und das Versprechen des American Life zu erhöhen.“ Detaillierte Angaben, wie die Informationsgesellschaft über weniger Steuern, Gesetze und Behörden in ihrem Elan bekräftigt werden soll, signalisieren unmissverständlich eine politische Zielsetzung. Die Formel „Reinventing Government“ lenkt ab von Sozialabbau, Chancenungleichheit und Marktmonopolen, während die angebliche „Globalisierung“ nur notdürftig ihren Hegemonialanspruch verhehlt: Amerika hat es gut, so soll es auch „die Welt“ haben. Keine Rede davon, dass sich das Internet vorderhand nur eine Elite (im industrialisierten Norden) leisten kann, der (im abgekoppelten Süden) die Gruppe der „Informationsarmen“ gegenüber steht. „Demassification, customization, individuality, freedom“ sind die „Schlüssel zum Glück“ einer künftigen Zivilisation – damit werden die traditionellen solidarischen Werte ausgehebelt.

Einflussreiche Verfechterin dieser Internet-Politik ist die „Progress and Freedom Foundation“ (PFF), die sich nach Eigenwerbung zum Ziel gesetzt hat, „eine positive Zukunftsvision zu kreieren, die auf den historischen Prinzipien der amerikanischen Idee gründet“. Newt Gingrich steht ihr nahe, und ihr Vorsitzender George A. Keyworth, der mit Alvin Toffler und anderen die „Magna Carta“ mitverfasst hat, war Wissenschaftsberater unter Präsident Reagan. Mit erheblichem propagandistischem Aufwand veröffentlicht die PFF seit einigen Jahren auf ihrer Website Manifeste und Aufsätze, die sich ebenso mit der „Natur des Cyberspace“ beschäftigen wie für eine völlig liberalisierte Telekom-Gesetzgebung lobbyieren. Begriffe wie Demokratisierung, Deregulierung, Globalisierung dienen ihr dabei als politische und patriotische Kampfbegriffe.

Wie bereitwillig diese Begriffe auch scheinbar gegensätzlichen Zielen dienen, zeigt die „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“, womit der Web-Guru John Perry Barlow anfangs 1996 mit entwaffnender Blauäugigkeit auf Zensurversuche der Clinton-Administration gegenüber dem Internet reagiert hat. „Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes“, hebt Barlow pathetisch an, um dann forsch zu fordern: „Lasst uns in Ruhe!“ (Telepolis 1996, 85) So einfach ist das. Der ehemalige Hippie und Texter für „Grateful-Dead“ versucht seine Nähe zu den neoliberalen Vorstellungen der Gingrich-Boys gar nicht zu kaschieren, weshalb Jay Keyworth in seinem Manifest „People and Society in Cyberspace“ etwas später getrost vom „ausgezeichne-ten Kollegen“ Barlow sprechen und ihn ohne Not zitieren kann. „Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft“ (Telepolis 1996, 86), faselt Barlow fasziniert von seiner wunderbaren Utopie. Ihn ficht auch nicht an, dass inzwischen ruchbar gewordene Zensurversuche durch Internet-Anbieter (Provider) andeuten, dass sein „Virus der Freiheit“ möglicherweise nur von begrenzter Haltbarkeit ist (siehe Mythos 1997, 225 ff.). Weniger der drohende Verlust aller Copyright-Rechte als der Eigentumsschutz beschäftigt die neoliberalen Netizens und lässt sie bereits wieder nach (versteckten) Regulierungen rufen. Auch zur Sicherheitsüberwachung bietet sich, wie Beat Leuthardt in „Leben online“ nachweist, das Internet vortrefflich an. Diesbezüglich ist die Warnung seines Kritikers Neil Postman ernst zu nehmen: „Die vernetzte Gesellschaft ist jetzt schon gefährlich und in gewisser Weise auch reaktionär“ (Die Zeit, 18.10.96).

In den Verbund von Netz-Anarchos und Reagan-Reaktionären hat sich mittlerweile auch die Clinton-Regierung eingeklinkt. Politik ist out, die Freiheit den Tüchtigen! Für diese Verbrüderung scheinbarer Opponenten haben Richard Barbrook und Andy Cameron den Begriff der „kalifornischen Ideologie“ geprägt (Telepolis 1996, 51ff.). In verkürzter Form besagt er, dass romantische Verklärung und ökonomisches Kalkül alle Divergenzen solange überlagern, wie das elitäre Muster unangetastet bleibt: die rentierende Republik des freien Geistes, die virtuelle Agora des globalen Warenmarktes. „Der Kern dieser Utopie“, ergänzt Florian Rötzer, „ist der Versuch, sich jeder gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen, die in den Nationalstaaten auch durch das Erheben von Steuern geschieht. Steuergelder dienen der Finanzierung von Einrichtungen im öffentlichen, d.h. allgemeinen Interesse einer Bevölkerung und dem Versuch, einen gewissen Ausgleich zwischen den Reichen und Armen zu schaffen. Im Vordergrund steht das Mißtrauen gegenüber dem Staat und das Gefühl, von ihm ausgebeutet zu werden.“ Dies lässt schon erahnen, dass ungeachtet von Tofflers zuversichtlicher Beteuerung vom „closing the gap“ die Lücke zwischen Reich und Arm, erster und dritter Welt weiter aufklaffen wird. Auf die Bildungselite folgt die Netzelite.

Das elektronische Volk auf dem alten Kontinent

Unverhohlen demonstriert hier die Cyberspace-Euphorie ihre amerikanische Prägung. Auf dem alten Kontinent dagegen scheinen sich die nationalstaatlichen und sozialen Traditionen noch gegen den digitalen Innovationsschub zu sträuben. „Cyberspace“ und „Informationszeitalter“ klingen hier eher nach Menetekel denn nach Zauberwort, weshalb die Auseinandersetzung mit dem zwiespältigen Medium von abwägender, skeptischer Vorsicht geprägt ist. Es werden kritische Fragen ans Internet gestellt, etwa nach der sozialen Chancengleichheit oder nach den Auswirkungen auf Arbeitsleben, Demokratie und schulische Bildung. Unter dem Druck der transatlantischen Konkurrenz und der Faktizität des Internets bröckelt der Widerstand allerdings.

Einen Mittelweg zwischen virtuellem Marktplatz und sozial-politischer Realität schlägt die „Münchner Erklärung“ vor, die im Februar 1997 anlässlich der Konferenz „Internet & Politik“ verabschiedet worden ist. Wie ihre Überschrift „Zivilisierung des Cyberspace, Modernisierung der Demokratie“ andeutet, sucht sie die divergierenden Forderungen auszubalancieren. „Die neuen Kommunikationsmedien bergen die Gefahr eines ëelektronischen Populismusí, aber sie eröffnen auch Chancen für eine Modernisierung der Demokratie und eines Neubestimmung der Staatsaufgaben.“ Dabei geht es den 10 Verfassern und der einen Verfasserin nicht darum, den Staat nach amerikanischem Vorbild bis zur Schimärenhaftigkeit auszuhöhlen, sondern ihm in der Wahrung demokratischer Rechte eine wichtige Rolle zu übertragen. Er soll das Internet als Informationskanal nutzen, auf ihm Möglichkeiten direkter Mitsprache einrichten, den Schutz der Netzkommunikation gewährleisten und im Sinne eines öffentlichen Dienstes dafür sorgen, dass alle BürgerInnen ein Recht auf „freien und kostengünstigen“ Zugang zum Netz haben.

Favorisiert die „kalifornische Ideologie“ eine Cyberdemokratie in Form unverbindlicher Diskussionsforen (Newsgroups), will die „Münchner Erklärung“ demgegenüber politisch relevante Mitbestimmungsmodelle über digitale Kanäle anregen (siehe Roesler in: Mythos 1997; Fassler 1994). Bürgernaher Dialog als Gegenentwurf zur globalen Dispersion sowie als „Mittel gegen politische Apathie und ëPolitikverdrossenheití“? Im Endeffekt sollten die eingesetzten Mittel freilich auch in dieser Lesart eine „politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rendite“ abwerfen.

Gegen die Münchner Erklärung haben Kritiker zurecht eingewandt, dass vieles daran nebulös bleibe. Zwar spricht sie von Demokratie, Bildung, Bewahrung des Kulturerbes und telematischer Grundversorgung, spart aber grundlegend davon betroffene Bereiche wie Arbeit oder Steuerhoheit aus – Fundamenten demokratischer Mitbeteiligung. Diesen Zusammenhang hebt Herbert Kubicek skeptisch hervor, da „eine gewisse Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung und des Wohlstands erreicht sein muss, bevor alle diese Dinge keimen können“. Der europäische Beitrag zur Internet-Diskussion muss demnach viel stärker auf eine Interessenvertretung für die benachteiligten Majoritäten hinwirken, wenn er der amerikanischen Netzeuphorie ernsthaft Paroli bieten will. In diesem Sinne hat anfangs Januar 1997 die sozialdemokratisch geprägte „Online Magna Charta“ ein neues Menschenrecht formuliert: „Die neuen Möglichkeiten der Information und Kommunikation müssen international nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch vor der Marktmacht von Monopolen, Oligopolen und Kartellen und vor politischem Machtmissbrauch geschützt werden.“

Es geht momentan also darum, Einfluss auf die künftige Medienordnung zu nehmen, bevor es die Privatwirtschaft in eigenem Interesse erledigt. Mit den Worten von Karl Müller, dem Herausgeber des frechen online-Magazin „Trend“, in dem linksaktivistische Gruppen ihre Informationskanäle eingerichtet haben: „Man darf das WWW nicht einfach den kommerziellen Anbietern überlassen, sondern es auch für die Ziele von linken und radikalen Gruppen erproben“. Auch wenn übertriebene Hoffnungen fehl am Platze sind, leistet die Diskussion über eine „Cyberdemokratie“ gute Dienste, weil sie kritisch engagiert nach dem Wert lokaler Integration im virtuellen „Global Village“ fragt.

Schulen ans Internet !

Der Herausforderung Internet kann sich natürlich auch die Schule nicht entziehen. Wo schon kleine Knirpse Erfahrungen mit dem Computer machen und wo die Berufschancen von Jugendlichen ohne Computer- Kenntnisse drastisch sinken, hat sich der Unterricht zwangsläufig mit den neuen Technologien auseinanderzusetzen. Dabei freilich gerät die Schule ins Dilemma. Was soll sie lehren? Welche Kompetenzen kann sie vermitteln?

Das Internet ist kein Finde-, sondern primär ein Suchmedium, das Wege zu einem ungeordneten „polymorphen Informationssystem“ (Haraway 1995, 48) eröffnet, deren Datenfülle die Substanz überwiegt. Vermittelte die Schule einst gründliche Kenntnisse in den „hauptsächlichen“ Fächern, so weitet sich der pädagogische Horizont heute in die Breite. Wichtig ist nicht mehr das Wissen an sich, sondern die Kenntnis, wo es in fundierter Form zu holen und wie seine Fülle zu verarbeiten ist, ohne sich darin zu verlieren. An sich nichts Neues, doch mit dem „information overload“, dem das Internet wesentlich Vorschub leistet, verändern sich die Anforderungen auch an die Schule. Ins Zentrum seiner gesellschaftlichen Utopie stellt der Medienphilosoph Pierre Lévy die „kollektive Intelligenz“, bei der „das Lernen voneinander eine vermittelnde Funktion in den Beziehungen zwischen den Menschen einnimmt.“ (Lévy 1997, 27) Dabei, ergänzt der Zürcher Medienpädagoge Christian Doelker, avanciert der Lehrer zum „Moderator“, der beim „Einordnen, Gewichten und Beurteilen von Informationen“ hilft (Informationsgesellschaft 1997, 111).

Ähnlich argumentieren auch die zehn bildungspolitischen Thesen, die Wolfgang Frei in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zur Diskussion gestellt hat. Die Rolle des Lehrers, so ihr vierter Punkt, verändert sich in Konkurrenz zum Internet. Als Wissensvermittler zeigt er „Methoden der Selektion in der Informationsflut, lehrt (er), wie man lernt“ (NZZ, 15.6.97). In welche Richtung diese neue Schule aber weist, demonstrieren die volkswirtschaftlichen und konkurrenzpolitischen Begründungen für die Beschäftigung mit Internet im Unterricht. Begriffe wie „Schlüsselqualifikation“ und „Wissensmanagment“ lassen anklingen, was unter Punkt neun dann explizit gewünscht wird: die Einbindung von privaten Sponsoren bei der Verkabelung der Schulen. Frei nimmt damit Bezug auf ein Angebot der Netzwerkfirma Cisco, die angeboten hat, nach amerikanischem Muster bis ins Jahr 2000 mindestens 2000 Schulen ans Netz anzuschliessen. Das gleichermassen zuvorkommende wie in der Wortwahl knallharte Angebot verströmt den Charme hegemonialen Zwangs. Dies allerdings schien den Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor erst recht in seiner Begeisterung für diesen Vorschlag zu bestärken. Und ein Vertreter der Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz pflichtete ihm bei, als er versprach, dass ohne Bundesgelder ein „Sponsoring der Computerindustrie“ angestrebt werde, um das privatwirtschaftlich vorgegebene Ziel zu erreichen (SonntagsZeitung, 54.5.97). Wenn es freilich konkret wird, kühlt sich das Mütchen schnell wieder ab. Die Internet-Initiative eines Thurgauer Lehrers ist bislang am Geld gescheitert.

Wie übrigens das „uneigennützige“ Sponsoring aussehen kann, hat der Medienmulti Bertelsmann im Evangelisch-Stiftischen Gymnasium in Gütersloh bewiesen: Geld gegen Evaluation. Irgendwo sind die Verkaufsschlager von morgen ja im Feldversuch zu testen.

„Das Bildungssystem muss in die Lage versetzt werden“, so richtet sich die „Münchner Erklärung“ an den Staat, „junge Menschen auf die Herausforderung der Informationsgesellschaft vorzubereiten“. Die „Neutralität“ dieser Formulierung verweist auf das eigentliche Dilemma der Schule „von morgen“: Sie muss einander entgegengesetzten Interessen gerecht werden. Zum einen hat der Unterricht den SchülerInnen bei ihrer Anpassung ans neue Medium zu helfen, zum anderen aber sollte sie auch kreative Zugänge zum Internet lehren, damit die blinde Abhängigkeit von kritischer Nutzung abgelöst wird. Denn unter ökonomischem Blickwinkel geht nur allzu gerne vergessen, dass Informationen orten, erkennen und ordnen nur kann, wer dazu befähigt ist aufgrund eines soliden Basiswissens. „Ohne Hintergrundwissen sind sie wertlos“, meint Doelker und folgert, dass LehrerInnen in Zukunft wichtiger würden (Informationsgesellschaft 1997, 111). Findet technoinfantile Idiotie im Netz ohnehin bloss die sprichwörtliche Trüffel, befähigt eine solide, kreative Grundkompetenz in den Basisdisziplinen immerhin auch im fortgeschrittenen Alter von über zehn Jahren zum Internet-Zugang.

Allen euphorisierten digitalen Unkenrufen zum Trotz wird die Schrift eine zentrale Funktion behalten (Haraway 1995, 63) und die fundierte Information auf dem Internet bis auf weiteres der globalen „elektronischen Bibliothek“ entstammen. Ihretwegen und nicht aus Kaufinteresse loggt sich gemäss einer neuern Untersuchung die Mehrzahl der NutzerInnen ins Netz ein.

Breitgefächterte Allgemeinbildung unter Einschluss von telekommunikativen Kompetenzen befähigt zum tieferen Verstehen und regt zur produktiven Skepsis im Umgang mit der „globalen“ Vernetzung an. Solche Skepsis ist notwendig, um defensiv die digitalen Manipulationstechniken zu durchschauen sowie produktiv an einem Internet zu bauen, das „als Widerstandsform gegen eine überhandnehmende Wirtschaftsmacht und gegen die Macht der Hierarchie“ funktionieren könnte. Denn was immer radikale Kritiker vorbringen, die „informative Sintflut“ (Stanislaw Lem) öffnet nicht nur der Manipulation und dem Gerücht alle Kanäle, sie ermöglicht durchaus auch neue Möglichkeiten demokratischer Partizipation und politischer Subversion.

Dies ist aber nur eine der Zwiespältigkeiten, in denen der „Mythos Internet“ verhängt ist. Deshalb sind seine Kritiker nicht zu beneiden. Genügen sich die einen wie Neil Postman (Spiegel special 3/97, Informationsgesellschaft 1997) darin, das digitale Teufelszeug in Grund und Boden zu verdammen, suchen moderate, kritische Befürworter nach differenzierten Strategien gegenüber dem Internet. „Alles hängt auf lange Sicht von der Anpassungsfähigkeit und Lebendigkeit jener Netze ab, die wir zur Erzeugung, zur Aufbereitung und zum Austausch von Wissen schaffen.“ (Lévy 1997, 17) Wohl gemerkt: Netze, die wir schaffen und die sich uns anpassen! Vielleicht stimmt diese Vorstellung von Pierre Lévy allzu zuversichtlich, doch spornt er dazu an, eine angemessene Skepsis zu entwickeln, die uns den Umgang mit dem Internet lehrt, ohne dass wir uns heillos in der verfänglichen Illusion der globalen Vernetzung verheddern.

Literatur

Bühl, Achim, 1996. Cybersociety. Mythos und Realität der Informationsgesellschaft. Köln.

Fassler, Manfred / Halbach, Wulf R., 1994: Cyberspace. Gemeinschaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten. München.

Dery, Mark, 1997: Cyber. Kultur der Zukunft. Berlin

Flusser, Vilém, 1993: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design, Göttingen.

Glaser, Peter, 1996: 24 Stunden im 21. Jahrhundert, Köln.

Gräf, Lorenz / Krajewski, Markus (Hg.), 1997: Soziologie des Internet. Handeln im elektronischen Web. Frankfurt/Main.

Haraway, Donna, 1995: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt / Main.

Heuser, Uwe Jan, 1996: Tausend Welten. Die Auflösung der Gesellschaft im digitalen Zeitalter. Berlin.

Die Informationsgesellschaft im Neuen Jahrtausend, 1997: Hg. v. S. Baron, K. E. Becker und H. P. Schreiner. Mit Beiträgen von N. Postman, C. Doelker, G. Schulze, J. Galtung, C. Stoll, A. Silbermann u.a. Bergisch Gladbach.

Kursbuch Internet, 1996: Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur. Hg. v. Stefan Bollmann und Christine Heibach, Christine. Mit Beiträgen von John P. Barlow, Sherry Turkle u.a. Mannheim.

Leuthardt, Beat, 1996: Leben online. Von der Chipkarte bis zum Europol-Netz: Der Mensch unter ständigem Verdacht. Reinbek b. Hamburg.

Lévy, Pierre, 1997: Die kollektive Intelligenz. Eine Anthropologie des Cyberspace. Mannheim.

Meier, Martin, 1997: Das Internet. Eine ungewöhnliche Geschichte. Berlin.

Mythos Internet, 1997: Hg. v. Stefan Münker und Alexander Roesler. Mit Beiträgen von Steven Jones, Mark Poster, Rudolf Maresch, Saskia Sassen, Florian Rötzer u.a. Frankfurt/Main.

Rost, Martin, 1996: Die Netzrevolution. Auf dem Weg in die Weltgesellschaft. Frankfurt / Main.

Sassen, Saskia, 1996: Metropolen des Weltmarktes. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt/Main.

Spiegel special 3/97: Den Fortschritt bremsen? Streitgespräch zwischen John P. Barlow und Neil Postman. Hamburg.

Stoll, Clifford, 1996: Die Wüste Internet. Geisterbahnfahrten auf der Datenautobahn. Frankfurt/Main.

Telepolis, 1996 f.: Die Zeitschrift der Netzkultur. Nullnummer 1996, Nr. 1 1997. In erweiterter Form (inklusive der Diskussionsbeiträge zu „Internet & Politik“) ist sie auf dem Netz nachzulesen.

Winkler, Hartmut, 1997: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. Mit einem Interview mit Geert Lovink. München.

Wyss, Beat, 1997: Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien, Köln.

(aus WIDERSPRUCH, Heft 33: Bildung, Schule, Arbeit. Juli 1997)

 

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