Diese Website ist seit dem Ende des Studiengangs Informationswissenschaft
im Juni 2014 archiviert und wird nicht mehr aktualisiert.
Bei technischen Fragen: Sascha Beck - s AT saschabeck PUNKT ch
Drucken

Diskussionsbeiträge

Informationswissenschaftlicher Reader

Gesellschaft

Elektronische Öffentlichkeiten

Bernhard Debatin

Über Informationsselektion und Identität in virtuellen Gemeinschaften

(leicht veränderte Version aus: FIFF ­ Kommunikation, Computer und Demokratie, 4/1996, pp. 23-26)


Index:


Mit dem Internet – genauer: mit den unter diesem Begriff zusammengefaßten Netzwerken von elektronischen Diensten und technischen Strukturen – ist ein neuartiger Kommunikationsraum entstanden, dessen spezifische Eigenschaften und Funktionen längst noch nicht ausgelotet und dessen Einflüsse auf Kultur und Gesellschaft noch weitgehend unklar sind. In der öffentlichen Diskussion wird das Internet derzeit immer noch vorwiegend als „Datenautobahn“ begriffen, eine Metapher, die auf einem informationstheoretischen Transportmodell der Kommunikation beruht und den Umstand ignoriert, daß das Internet für viele seiner Benutzer vor allem auch ein sozialer Raum ist.

Mit den diversen Newsgroups, Diskussionsforen, Chat-Räumen und ähnlichen Formen haben sich virtuelle Gemeinschaften gebildet, die Aspekte der massenmedialen Kommunikation mit Aspekten der persönlichen Kommunikation vereinigen: Wie bei der Massenkommunikation sind die Benutzer des Internets relativ zufällig verteilt (Dispersität) und sie müssen sich nicht kennen (Anonymität). Anders als bei der direkten face-to-face Kommunikation entfallen hier aber durch die medienspezifischen Kanalbegrenzungen alle leibgebundenen Qualitäten des Gegenübers (Aussehen, Geschlecht, Stimme, Mimik, Gestik etc.), wodurch die Unkalkulierbarkeit der Kommunikation steigt.

Im Unterschied zur herkömmlichen Massenkommunikation erlaubt das Internet jedoch durch seine interaktiven Strukturen echte Mehrwegkommunikation: Computervermittelte Kommunikation zwischen Benutzern in Echtzeit (etwa in Chat-Räumen) ist dialogisch und von allen Beteiligten beeinflußbar. Durch das Internet entsteht so eine neuartige Form gesellschaftlicher Kommunikation, was auch die bisherige Struktur öffentlicher Kommunikation verändert: Die breite elektronische Vernetzung der Menschen durch das nicht-hierarchische Kommunikationsmedium Internet soll zu einer „Wiederbelebung der Öffentlichkeit“(1) führen, indem das technische Netzwerk Internet und die auf sozialen Netzwerken beruhenden Teil- und Gegenöffentlichkeiten in eine fruchtbare und dynamische Wechselwirkung treten. Da Prozesse der demokratischen Meinungs- und Willensbildung zentral vom Funktionieren der öffentlichen Kommunikation abhängen, wird dem Internet ein besonderes demokratisches Potential zugeschrieben.

Aber nicht nur die Hoffnung besserer Informiertheit und freierer Meinungsbildung, sondern auch die Gefahr noch stärkerer Informationsflut und Manipulation wird mit dem WWW verbunden. Diese Gefahr wird dadurch verstärkt, daß den Kommunikationen im Internet die Verbindlichkeit und die Nachprüfbarkeit von direkter Kommunikation fehlt. Und während Glaubwürdigkeit und Objektivität von konventionellen Massenmedien durch die Zuordnung zu Redaktionen, Verlegern und Autoren noch einigermaßen konstant eingeschätzt werden kann, ist gerade dies im Internet mit seinen Millionen von zirkulierenden Informationen kaum möglich. Die Auswahl (Selektion) von Information und ihre Rückführbarkeit auf glaubwürdige Quellen sind deshalb zentrale Probleme der Kommunikation im Internet. In diesem Zusammenhang spielen die virtuellen Gemeinschaften des Internet meines Erachtens eine grundlegende Rolle, da sie sowohl die Funktion der Selektion von gesellschaftlich zirkulierender Informationen und die Funktion der identitätsbildenden Integration der Mitglieder der Gesellschaft erfüllen und damit klassische Aufgaben der Öffentlichkeit übernehmen. Ich will dies im folgenden genauer betrachten.


I. Selektion und virtuelle Gemeinschaft

Information (selbst bereits eine Selektion gegenüber dem als nichtinformativ ausgesonderten) kann massenmedial nur dann kommuniziert werden, wenn sie an ein existierendes Thema anschließbar ist oder durch eigene Brisanz selbst ein neues Thema etabliert. Die Medien der Massenkommunikation fokussieren dabei die Aufmerksamkeit des Publikums, indem sie einen begrenzten Vorrat an gemeinsamen Themen vorgeben, um die herum sich dann öffentliche Meinungen bilden. Diese in der Kommunikationswissenschaft unter dem Titel „Themenkarriere“ und „Agenda Setting“ bekannt gewordenen Theorien der Informationsselektion(2) greifen aber, so meine These, nur im Blick auf lineare Einwegmedien, wie Zeitung, Rundfunk und Fernsehen. Das Internet ist durch seine Netzstuktur und durch die Hypertextualität des WWW nichtlinear und dezentral, und es erlaubt aufgrund seiner Interaktivität echte Mehrwegkommunikation.

Ein an wenigen Themen orientierter Selektionsmechanismus wäre hier weder praktikabel noch wünschenswert. Derzeit sind allerdings noch Informationsüberflutung und thematische Unübersichtlichkeit kennzeichnend für die Kommunikation im Internet. Das Abenteuer des zufallsgesteuerten Surfens im Netz kann bekanntlich schnell zum Alptraum oder zur Langeweile werden. Die im WWW angebotenen Suchmaschinen sind zwar sehr effektiv, sie bleiben jedoch bislang rein syntaktische Maschinen ohne semantisches oder gar Kontextverständnis und sie bringen in der Regel zu viele Ergebnisse hervor. Auch stellt die wachsende Flut von elektronischen Mails die meisten Benutzer vor die Alternative, ihre Post ungelesen oder nur flüchtig überflogen zu löschen, oder immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit auf die Auswahl von eingehenden Informationen zu verwenden. Abhilfe sollen hier die als Netz- oder Software-Agenten bekannt gewordenen automatischen Selektionsprogramme schaffen, die mit Hilfe von benutzerdefinierten Kategorien und Kriterien eine Vorauswahl aus der eingehenden Information treffen oder sogar aktiv das Netz nach bestimmten Informationen durchsuchen und mit anderen Agenten in Kontakt treten. Ein auf diese Weise individuell zusammengestelltes multimediale Informationspaket stellt eine große Ersparnis an Zeit und Aufmerksamkeit dar. Mit Hilfe von Software-Agenten sollen nicht nur die Selektion und Steuerung immenser Informationsströme, sondern auch die Verarbeitung und Transformation komplexer multimedialer Kommunikationen sowie die Bereitstellung adaptiver, menschenähnlicher Schnittstellen möglich werden.(3)

Es ist allerdings zu fragen, um welchen Preis dies geschieht. Die Vergabe von eigenen Kriterien löst noch nicht das Problem, daß die Suchbegriffe im Netz selbst nur syntaktischer Natur sind. Auch sind unsere Auswahlkriterien relativ zufällig und sie ändern sich unter dem Eindruck neuer Erfahrungen ständig (wer aber möchte dauernd seine Software-Agenten umprogrammieren?). Und schließlich entfällt bei der Verwendung von Software-Agenten das spielerische und kreative Element, das bei natürlichen Such- und Auswahlprozessen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Prozesse dieser Art beruhen auf kognitiver Offenheit, emotiver Intuition, perzeptiver Gestaltwahrnehmung, oft zielloser Experimentierfreude und kreativer Konstruktion von manchmal ganz unwahrscheinlichen Ähnlichkeiten. Vorab festgelegte Selektionskriterien wirken sich dabei ebenso hinderlich aus wie vorschnelle Hypothesen bei der Detektivarbeit. Obendrein besteht hier die Gefahr, daß man sich blind auf die Selektionen des Software-Agenten verläßt und möglicherweise relevante, vor allem aber neuartige Information außerhalb des Selektionsfeldes nicht mehr wahrnimmt – ein Problem, das etwa aus Organisationsroutinen und auch aus der Vorurteilsforschung hinlänglich bekannt ist. Jede Selektion stellt ja zugleich immer auch einen Ausschluß des Nicht-ausgewählten dar, was bei dauernder Wiederholung zum systematischen Ausschluß (und oft zur Nichtwahrnehmung) ganzer Bereiche führen kann.

Möglicherweise können diese Probleme durch lernfähige, an soziale Situationen rückgekoppelte Software-Agenten umgangen werden. Diese sollen ihre Kriterien im Austausch mit anderen Software-Agenten und im Feedback mit dem eigenen und anderen Benutzern immer wieder aktualisieren. Einen solchen Service bietet etwa die Software Firefly, die mit dem Slogan „firefly is about two simple things: you and the community“ wirbt.(4) Die Benutzer von Firefly sollen dabei ihren personal software agent im Blick auf persönliche Präferenzen, Meinungen, Geschmack und Interessen „trainieren“. Dadurch können nicht nur die einzelnen Benutzer Informationen erhalten, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten, sondern dies soll auch zum Aufbau einer virtuellen Geschmacks- und Interessengemeinschaft führen, die um so komplexer und differenzierter wird, je mehr Leute daran teilnehmen. Hier werden Feedbackprozesse, die denen der direkten interpersonalen Kommunikation vergleichbar sind, gezielt eingesetzt, um einen hohen kommunikativen Austausch innerhalb der Firefly Gemeinschaft zu erreichen. Dazu gehört auch, daß man auf andere Mitglieder der Gemeinschaft hingewiesen wird, die ähnliche Interessen haben und mit denen man dann in Echtzeit „plaudern“ kann. So bildet sich bei den Mitgliedern der virtuellen Gemeinschaft eine öffentliche Meinung.

Allerdings muß man relativ viel Online-Zeit in dieser virtuellen Gemeinschaft verbringen, wenn man ihren Service nutzen will. Fraglich ist auch, ob dieses Konzept außerhalb einer solchen relativ geschlossenen virtuellen Gemeinschaft funktionieren kann. Die beschriebenen Feedbackprozesse sind nämlich unter Bedingungen eines dispersen, anonymen und sich stetig ändernden Publikums schlichtweg nicht zu verwirklichen: Die Grenzen solcher lernfähiger personal software agents sind damit die Grenzen der virtuellen Gemeinschaft. Das Selektionsproblem wird hier letztlich dadurch gelöst, daß man den Selektionsraum stark verkleinert, und dabei soziale Nähe zum primären Selektionskriterium macht. Schließlich ist auch zu überlegen, ob ein solches Konzept unter dem Gesichtspunkt der Sammlung und Vernetzung von großen personenbezogenen Datenmengen tatsächlich wünschenswert ist. Zwar versichern die Firefly-Betreiber in ihrem „statement of integrity“, daß sie die Namen ihrer Benutzer nicht preisgeben, sie behalten sich aber zugleich das Recht vor, die von ihnen gesammelten demographischen Daten zu verwerten und weiterzugeben. Damit deutet sich ein wichtiger (wenn nicht gar der eigentliche) Zweck solcher Konzepte an, nämlich die Gewinnung von und der Handel mit Benutzerprofilen, was gerade im Blick auf die kommerzielle Nutzung des Internet eine notwendige Bedingung für gezieltes Marketing ist. Aus ethischer Sicht – wenn nicht bereits aus rechtlichen Gründen – erscheint eine solche Praxis jedoch als sehr problematisch. Die technisch ermöglichte massenhafte Sammlung von Daten über persönliche Präferenzen und der leichtfertige Umgang mit ihnen sind zumindest so lange äußerst bedenklich, wie die einzelnen Benutzer keine Klarheit über den vollen Umfang und die Konsequenzen dieser Praxis besitzen.


II. Identität und soziale Integration in virtuellen Gemeinschaften

Kommunikationssoziologisch interessant sind virtuelle Gemeinschaften aber nicht nur als Selektionsmechanismus, sondern auch und gerade als neuartige Organisationsform von Identitäten und von Öffentlichkeit. Die Parallelen zwischen der frühen bürgerlichen Öffentlichkeit und den „virtual communities“ im Internet sind inzwischen vielfach bemerkt und diskutiert worden.(5) Die sich in Foren, Diskussionsgruppen, News Groups, Mailing Lists und Chat-Räumen bildenden virtuellen Gemeinschaften ähneln in der Tat den Kaffeehäusern, Salons und gelehrten Tischgesellschaften der räsonnierenden Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. Die stukturellen Kriterien der thematischen und personellen Unabgeschlossenheit, der unbegrenzten Zugänglichkeit und der alleinigen Geltung des besseren Argumentes (statt Macht und Status) gelten zumindest als kontrafaktische Unterstellung für beide Formen der Öffentlichkeit.

Gegen diese Parallelitätsthese wendet allerdings Höflich ein, daß Öffentlichkeit und Gemeinschaft sich eigentlich eher ausschließen.(6) Dies ist insofern richtig, als Öffentlichkeit ja gerade die engen Grenzen einer jeweiligen, konkreten und begrenzten Gemeinschaft überschreiten und die Belange der Gesellschaft regeln will. Allerdings übersieht dieser Einwand, daß es gerade private Gemeinschaften sind, in denen sich sowohl die bürgerliche Öffentlichkeit wie auch die Netzöffentlichkeiten ausbilden: Privatheit und Öffentlichkeit sind von Anbeginn aufeinander angewiesen. Das Interessante – und hier trifft man auf eine weitere Parallele – ist dabei, daß sich in diesen Gemeinschaften Prozesse der gleichzeitigen Vergesellschaftung und Individuation abspielen: Die Mitglieder entfalten in der gemeinsamen Kommunikation ihre Gruppenidentität und zugleich ihre personale Identität. Die literarische Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts bildet das Forum in dem sich in Wechselwirkung von fingierter und realer Erfahrung „die Subjektivität kleinfamilial-intimer Herkunft mit sich über sich selbst verständigt“.(7) Die „literarisch vermittelte Intimität“ ist dabei gleichermaßen Ausdrucksform und Experimentierfeld der neuen Subjektivität: In der Auseinandersetzung mit sich selbst und der literarischen Fiktion entfalten sich die Identitäten der „zum Publikum zusammentretenden Privatleute“ (ebd.).

Meine These ist hier, daß sich genau solche Prozesse der experimentellen Identitätsbildung in den Foren, den Chat-Räumen und den MUD’s und MOO’s des Internet abspielen. Dabei werden nicht nur subjektive Identitäten erprobt und formiert, sondern auch die Identität der Gruppe, ihre Grenzen und ihre Regeln definiert. Zugleich laufen dauernd öffentliche Auseinandersetzungen über diese Prozesse ab, so daß die Grenze zwischen Konstitution und Reflexion der Identität oft nicht auszumachen ist. In diesen Prozessen bildet sich der kulturelle und soziale Boden für elektronische Öffentlichkeiten. Ich will diese These kurz erläutern.

Wenn Habermas im oben zitierten Zusammenhang etwa davon spricht, daß die Personen im Salon der Mme. de Stael „sich selbst und anderen zu >sujets de fiction<“ werden, dann ist damit eine Situation bezeichnet, in der ein spielerisch-experimenteller Umgang mit der eigenen und der fremden Identität möglich ist. Solche „virtuellen Identitäten“, im Zeitalter der literarischen Öffentlichkeit noch an Briefkommunikation, Literatur und Diskussionszirkel gebunden, werden unter Bedingungen computervermittelter Interaktion zwischen Menschen gleichsam zur Kommunikationsgrundlage. Denn der entscheidende Unterschied zwischen jenen räsonnierenden Zirkeln und den Chat-Räumen des Internet ist, daß sich die Mitglieder der letzteren in der Regel nie gesehen haben und meist auch nicht sehen werden. Die virtuelle Medienidentität (z.B. Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Beruf und soziale Rolle) kann zumindest im Rahmen der kognitiven und emotiven Möglichkeiten der jeweils dahinter stehenden Person relativ beliebig festgelegt und durchgespielt werden.

Dies eröffnet die Möglichkeit, mit Identitäten zu experimentieren, die stark von der für die Person normalen Identität abweichen. Amy Bruckman hat für dieses Phänomen den treffenden Begriff „Identity Workshop“(8) gefunden. Virtuelle Rollenspiele können dabei sowohl starke sozialisatorische Effekte auf die netzexterne Persönlichkeit haben – Sherry Turkle beschreibt mehrere solche Fälle(9) – als auch intensive soziale und psychologische Prozesse innerhalb der virtuellen Gemeinschaft in Gang setzen. In den meisten Fällen der Konstruktion von virtuellen Identitäten kommt es zu sehr komplexen Interaktionen mit der Identität der „Real Life“-Person (RL-Person). Das Wissen um die Tatsache der Inszenierung macht die Kommunikation prekär und erhöht die kommunikative Unsicherheit, zumal nicht auf die leibgebundene para- und nonverbale Kommunikation Bezug genommen werden kann.(10) Kommunikative Erwartungen und kommunikationsstabilisierende Erwartungserwartung können nur anhand von relativ dürren Texten gewonnen werden. Dies führt oft zu der Annahme, daß die virtuelle Medienidentität und die dahinterstehende RL-Person zumindest teilweise identisch sind.(11)

Wie wirksam diese Annahme, zeigt drastisch der „plötzliche Tod“ von Usern: In einem Chat-Forum, das ich seit Ende 1995 regelmäßig besuche, starben unabhängig voneinander zwei Mitglieder nach kurzer Krebskrankheit, was bei den Mitgliedern der virtual community große Anteilnahme und Trauer hervorrief. In beiden Fällen stellte sich jedoch später heraus, daß nicht die RL-Person, sondern nur die virtuelle Medienperson gestorben war: Im einen Fall ergaben Recherchen, daß die besagte Person weder in dem angegebenen Krankenhaus noch sonst irgendwo verstorben war, im anderen Fall tauchte die Person unter neuem Namen wieder auf und gab sich einigen Leuten gegenüber zu erkennen. Die meisten Forummitglieder reagierten darauf mit Empörung, man fühlte sich getäuscht. Daraufhin entstanden Diskussionen darüber, wie so etwas künftig zu verhindern sei, und ob solche virtuellen Selbsttötungen moralisch zu rechtfertigen sind – kurz: es fand eine intensive öffentliche Debatte über diese Vorkommnisse statt.

Paradigmatisch für die komplexen sozialen und psychologischen Prozesse innerhalb der virtuellen Gemeinschaft ist auch die Geschichte einer virtuellen Vergewaltigung in LambdaMOO, in deren Folge es nach sehr emotionalen Auseinandersetzungen nicht nur zum Ausschluß des „Täters“ aus dieser Gemeinschaft kam, sondern auch – und hier ist wiederum die Anschlußstelle zur politischen Öffentlichkeit – zu ausführlichen Auseinandersetzungen darüber, wie die sozialen, moralischen und quasi-rechtlichen Regeln einer solchen Gemeinschaft beschaffen sein sollen.(12)

Zusammenfassend kann man sagen, daß sich im Internet elektronische Öffentlichkeiten bilden, die große Parallelen zu der Entstehung der bürgerlichen, besonders der literarischen Öffentlichkeit aufweisen, die aber auch als dezentrale elektronische Teilöffentlichkeiten eine große Nähe zu modernen „autonomen Gegenöffentlichkeiten“ [Habermas, (13)] haben. In diesen virtuellen Öffentlichkeiten findet eine experimentelle Konstruktion von Identitäten statt und es kommt – wie bei der literarischen Öffentlichkeit – zu komplexen Interaktionen zwischen fiktiv-virtuellen und real-lebensweltlichen Identitäten. In diesem Zusammenhang entstehen auch normativ-praktischen Diskussionen im Sinne einer politischen Öffentlichkeit: Subjektive Identitäten und öffentliche Meinungen bilden sich hier in wechselseitiger Abhängigkeit.

Diese Parallelen sollten aber nicht über die Unterschiede zwischen bürgerlicher Öffentlichkeit und elektronischen Öffentlichkeiten hinwegtäuschen.(14) Insbesondere ist zu berücksichtigen, daß die sozialen Kontakte im Internet nicht nur entkörperlicht, sondern auch meist wesentlich unverbindlicher sind als direkte face-to-face Beziehungen. Das Modell der frühen bürgerlichen Öffentlichkeit aber baut gerade auf der Anwesenheit und der sozialen Verbindlichkeit von Bürgern im öffentlichen Raum auf. Im Vergleich dazu sind die virtuellen Gemeinschaften des Internet flüchtiger, sie haben oft eine hohe personelle Fluktuation und ihre öffentlichen Meinungen bilden sich punktuell und spontan.

Allerdings wäre es auch falsch, sich hier eine prinzipielle Trennung zwischen virtuellen Gemeinschaften und anderen sozialen Netzwerken vorzustellen – dies nicht nur deshalb, weil sich in virtuellen Gemeinschaften Freundschaften bilden, die zum Übergang ins „RL“ motivieren, sondern auch, weil viele der virtuellen Gemeinschaften ja aus bereits existierenden sozialen Netzwerken (z.B. aus akademischen, regionalen, betrieblichen oder thematischen Netzen) hervorgehen oder sogar diese erst zur Entfaltung bringen. In diesem Sinne ist auch der im Zusammenhang mit dem Internet oft zu hörende Eskapismusverdacht zu pauschal. Das Intenet bietet die Möglichkeit des entpolitisierten Eskapismus wie des kritisch-demokratischen Engagements. Wie auch bei anderen Medien entscheidet hier letztlich die jeweilige Verwendung durch die Benutzer über Gefahren und Nutzen des Mediums, auch wenn gerade das Internet nicht zu unterschätzende ‚eingebaute‘ Probleme aufweist, wie etwa die Möglichkeit des Anzapfens von Datenflüssen durch Dritte oder der Verbreitung von moralisch fragwürdigen oder rechtswidrigen Schriften und Bildern.

Schließlich ist auch zu fragen, ob die elektronische Öffentlichkeit die politisch-praktische Wirksamkeit erreichen kann, die die bürgerliche Öffentlichkeit durch die ja nicht zuletzt auch wirtschaftliche und soziale Bedeutung ihrer Teilnehmer in Gesellschaft und Staat erlangte. In Anbetracht der Transformation des aufklärerischen Ideals kritischer Öffentlichkeit zur Wirklichkeit einer an Marktmechanismen angepaßten und durch Massenmedien und politische Eliten vorfabrizierten öffentlichen Meinung ist freilich zu hoffen, daß sich bei den elektronischen Öffentlichkeiten gerade nicht jene Verschmelzung von öffentlicher Meinung und politisch-wirtschaftlicher Macht wiederholt, die für den Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit charakteristisch ist.

Damit die aus virtuellen Gemeinschaften hervorgehenden elektronischen Öffentlichkeiten tatsächlich als kritische Öffentlichkeiten fungieren können, ist es notwendig, daß sie sich eher als problemorientierte „Grenzwächter“, denn als Lösungen produzierende Mittel der politischen Steuerung verstehen.(15) Richtungsweisend scheint mir dabei die kritische Warn- und Informationsfunktion, die viele der virtuellen Teilöffentlichkeiten bereits heute erfüllen – sei es im Zusammenhang mit eher netzbezogenen Angelegenheiten (z.B. Zensur, Kryptologie, Pornographie), oder sei es im Blick auf politische und soziokulturelle Prozesse (z.B. Bosnienkrieg, Kommunitarismus, ‚Goldhagen-Debatte‘). Damit deutet sich an, daß im Internet die klassische Funktion des kritischen öffentlichen Räsonnements durchaus mit der modernen Funktion eines Netzwerkes „höherstufiger Intersubjektivitäten“ (Habermas) verbunden werden kann.


Anmerkungen

(1) Howard Rheingold, „Die Zukunft der Demokratie und die vier Prinzipien der Computerkommunikation“, in: Stefan Bollmann (Hrsg.): Kursbuch Neue Medien, Mannheim 1995, 189-197, hier: 194, vgl. auch allgemein: ders.: The Virtual Community. Reading/Mass. 1993. Für eine ausführliche Kritik der Cyberdemocracy-These vgl. Alinta Thornton: Will Internet revitalise democracy in the public sphere? ***ZURÜCK***

(2) Vgl. Maxwell E. McCombs/ Donald L. Shaw, „The Agenda Setting Fuktion of Mass Media“, in: Public Opinion Quartely, 33/1972, 176-187, Niklas Luhmann, „Öffentliche Meinung“ in: ders., Politische Planung, Opladen 1975 und ders., Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. ***ZURÜCK***

(3) Für einen Überblick vgl. Marc Beacken et al.: „The Provosion of Intelligent Agent-Based Enhanced Multimedia Network Service.“ in: AT&T Technical Journal, Okt. 1995, 68-77. ***ZURÜCK***

(4) Zu finden unter diesem Link ***ZURÜCK***

(5) Vgl. hierzu etwa Howard Rheingold, 1993 a.a.O. und Mark Poster, Cyberdemocracy: Internet and the Public Sphere, 1995, ***ZURÜCK***

(6) Joachim Höflich, „Vom dispersen Publikum zu >elektronischen Gemeinschaften<„, in: Rundfunk und Fernsehen, 43/1995, 518-537, hier: 525. ***ZURÜCK***

(7) Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt/Neuwied 1962, 69. ***ZURÜCK***

(8) Vgl. Amy S. Bruckman, Identity Workshop. Emergent Social and Psychological Phenomena in Text-Based Virtual Identity ***ZURÜCK***

(9) Vgl. Sherry Turkle, Life on Screen. Identity in the Age of the Internet. New York 1995. ***ZURÜCK***

(10) Textbasierte para- und nonverbale Kommunikation gibt es dagegen durchaus, wobei dies nicht nur Emoticons und Gefühlsausdrücke (wie <eg> für „evil grin“, Klammern für „hugs“) umfaßt, sondern auch lautmalerische Buchstabenfolgen, Graphics (Ascii-Zeichen-basierte Bilder), Leerzeilen (Schweigen) u.ä. ***ZURÜCK***

(11) Vgl. etwa das Phänomen der fingierten Geschlechtsidentität, siehe hierzu auch Amy S. Bruckman, „Gender-Swapping auf dem Internet“, in: Rudolf Maresch, Medien und Öffentlichkeit. München1996, 337-344, und Turkle 1995, a.a.O. ***ZURÜCK***

(12) Vgl. Julian Dibbell: „A Rape in Cyberspace or How an Evil Clown, a Haitian Trickster Spirit, Two Wizards, and a Cast of Dozens Turned a Database into a Society“ in: The Village Voice, Dec. 21, 1993, 36-42. ***ZURÜCK***

(13) Zu diesem an sozialen Netzwerken orientierten Öffentlichkeitsbegriff vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, 415ff., ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, 435ff. ***ZURÜCK***

(14) Vgl. hierzu auch Poster 1995 a.a.O. ***ZURÜCK***

(15) Vgl. Habermas 1985: 423. ***ZURÜCK***

 

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen