Diskussionsbeiträge
Informationswissenschaftlicher Reader
Gesellschaft
Ethik und Internet
KURZFASSUNG
Die Entwicklung eines globalen, elektronisch-vernetzten Informationsmarktes stellt uns vor neue ethische und rechtliche Fragen bezueglich der internationalen Freizuegigkeit des Informationsaustausches, der Gestaltung und Kontrolle der weltumspannenden technischen Infrastruktur sowie der sozialen Spaltung zwischen Informationsreichen und Informationsarmen. In Anschluss an Kants Ideal der Mitteilungsfreiheit versuche in „aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren“ (J. Habermas) Hauptfragen einer heutigen Informationsethik zu skizzieren. Eine informationsethische Reflexion, welche dem Phaenomen der Globalisierung des Informationsmarktes entsprechen will, bleibt aber weitgehend wirkungslos, wenn sie nicht von einem supranationalen politischen Handeln begleitet wird. Ich schlage die Schaffung einer Internationalen Informationsagentur vor.
INFORMATIONSETHIK NACH KANT UND HABERMAS
EINLEITUNG
Es sieht zunaechst so aus, als ob zwei hundert Jahre nach Kants Aufforderung, uns mutig dazu zu entschliessen, den eigenen Verstand oeffentlich zu gebrauchen, die besten Aussichten haette, verwirklicht zu werden, naemlich im Internet. Wie stellte sich aber Kant die Aussoehnung zwischen der aufklaererischen autonomen Mitteilungsfreiheit und den vielfaeltigen sozialen Zwaengen vor?
In der Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklaerung? (Kant 1923, AA VIII) schlug er ein duales System vor. Auf der einen Seite sind wir als „Buerger“ beim Gebrauch unseres Verstandes eingeschraenkt, und zwar durch unterschiedliche militaerische, geistliche und politische Systeme. Wir unterstehen im Falle eines „buergerlichen Postens oder Amtes“ einem „Mechanism“ und sind „Teil der Maschine“, waehrend auf der anderen Seite, als „Gelehrte“, sprechen oder, genauer, schreiben wir „vor dem ganzen Publikum der Leserwelt“ und duerfen dabei „in allen Stuecken“ von unserer Vernunft „oeffentlichen Gebrauch“ machen. Dieses duale System ist so konzipiert, dass der Privatgebrauch den oeffentlichen Gebrauch zwar einschraenken aber nicht hindern darf.
Denn die buergerlichen Systeme sind nicht autark, sondern „Glied eines ganzen gemeinen Wesens“, das wiederum von der „Weltbuergergesellschaft“ umfasst wird. Diese Weltbuergergesellschaft ist das Forum, vor dem wir als Gelehrte den Mut haben sollten, uns im eigenen Namen zu aeussern.
Kants duales System kehrt nicht nur die Hierarchie um, so dass die Staatsraeson der Weltraeson unterstellt wird, sondern es billigt der Staatsraeson sowie auch der Glaubensraeson einen eigenen autonomen Machtbereich zu, unter der Voraussetzung, dass die Moeglichkeit sich oeffentlich zu aeussern, nicht „sonderlich“ behindert wird. Diese Kantische Konstruktion, seine „Reform der Denkungsart“, die durch keine „Revolution“ zustande gebracht werden kann, da diese ’nur‘ den „persoenlichen Despotism“ abschafft, bringt zunaechst mit sich, dass die uebliche Bedeutung der Ausdruecke ‚privat‘ und ‚oeffentlich‘ umgedreht wird. Oeffentlicher Gebrauch heisst der Gebrauch des eigenen Verstandes ohne Einschraenkung durch ein im gewoehnlichen Sinne oeffentliches Amt.
Wie aber soll konkret dieses Neben- und Ineinander von oeffentlichem und privatem Vernunftgebrauch funktionieren? Kants Antwort: „durch Schriften“ fuer die „Leserwelt“. Wir sollten den Mut haben, uns als Privatpersonen „frei und oeffentlich“ auf diese Art und Weise zu aeussern und dies sollte „durch keine Amtspflicht“ eingeschraenkt sein. In der Schrift „Was heisst: Sich im denken orientieren?“ (Kant 1923, AA: VIII) betont Kant, dass die Gedankenfreiheit unloesbar mit der Freiheit „seine Gedanken oeffentlich mitzutheilen“ verbunden ist.
Kants Oeffentlichkeit ist die wissenschaftliche Oeffentlichkeit, die
universale Gelehrtenrepublik. Ihr Medium sind die gedruckten Schriften.
Diese koennen potentiell von allen gelesen und kritisiert werden, ohne
dass dabei der Verstandes- bzw. Vernunftgebrauch (Kant bedient sich in
der Aufklaerungsschrift beider Termini ohne nennenswerte Unterschiede)
amtlich eingeschraenkt und dadurch ‚privatisiert‘, d.h. von wesentlichen
Stuecken beraubt wird. Dieser oeffentliche Raum ist ein zensurfreie Raum,
in dem die dogmatischen Grundsaetze der Politik und der Religion in ihrer
theoretischen Gueltigkeit ‚epochal‘ suspendiert und der oeffentlichen Pruefung
unterzogen werden.
Die scheinbare Narrenfreiheit der Gelehrten ist aber gleichwohl nicht anarchisch, sondern „das ganze Publikum der Leserwelt“ reguliert sich selbst. Kant appelliert deshalb nicht an den, wie er sagt, „hochmuetigen Namen der Toleranz“, an eine amtlich verordnete oder erlaubte Gedankenfreiheit, sondern jeder soll von sich aus lernen duerfen, sich diese Freiheit „aus der Rohigkeit“ heraus zu erarbeiten. Andererseits droht die Paradoxie, die Kant am toleranten Verhalten seines aufgeklaerten Koenigs beobachtet: „raesoniert, soviel ihr wollt und worueber ihr wollt; nur gehorcht!“
Theorie und Praxis klaffen auseinander. Demgegenueber fordert Kant nicht „einen groessere Grad“, sondern „einen Grad weniger“ buergerlicher Freiheit. Er bekaempft dabei die politische mit einer philosophischen Paradoxie: Wenn die Gedankenfreiheit um den Preis des politischen Gehorsams erkauft werden muss, dann ist ihm lieber jene auch ‚in politicis‘ zu besitzen, auch wenn dabei die „Freiheit zu handeln“ nicht unmittelbar „ausgewikelt“ werden kann. Nicht nur Religion, Kuenste und Wissenschaften, sondern auch die „Gesetzgebung“ sollen also Gegenstand der freien, oeffentlichen und das heisst gedruckten Ausuebung der eigenen Vernunft werden. Kants Aufspaltung von Gedankenfreiheit und Handlungsfreiheit, seine „Reform der Denkungsart“, zielt aber ueber den Umweg der gedruckten Schriften auf eine Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, so dass zwar nicht unmittelbar die Regierungen, wohl aber ihre Grundsaetze gewandelt werden koennen, wodurch dann letztlich auch ein politisch freieres Handeln zustande kommen mag.
Ist dieses Kantische duale Konstrukt, Gelehrtenfreiheit auf der einen, Buergerpflicht auf der anderen Seite, heute, im Informationszeitalter, zeitgemaess? Ich moechte zunaechst einige Gedanken in Anschluss an Juergen Habermas‘ Kritik von Kants Idee des Ewigen Friedens „aus dem historischen Abstand von 200 Jahren“ vorausschicken (Habermas 1995), bevor ich im zweiten Teil einige Thesen zu informationsethischen Fragen zur Diskussion stelle.
I. VON KANT ZU HABERMAS
Das Weltbuergerrecht, so Habermas ueber Kant, soll den Naturzustand zwischen den kriegfuehrenden Staaten beenden und zwar in Analogie zum Gesellschaftsvertrag, der das Ende des Krieges zwischen den Individuen ermoeglichen soll. Dabei hat Kant die Analogie so weit gelten lassen, als die dem Gesellschaftsvertrag entsprechende Idee einer Weltrepublik durch eine „fortwaehrend-freie Assoziation“ oder durch einen „permanenten Staatenkongress“ (Kant, Rechtslehre Paragr. 61) ersetzt wird. Die Mitglieder dieses Staatenkongresses sollen sich freiwillig, also moralisch und nicht etwa verfassungsmaessig, verpflichten, einer solchen Assoziation unterordnen, um ihre Interessenkonflikte friedlich zu regeln.
Wir haben also mit einem dualen System zu tun, wo die Kluft zwischen Staatsraeson und Weltbuergergemeinschaft, eine Wiederspiegelung dessen darstellt, was im Bereich der Gedankenfreiheit die freiwillige Unterordnung der buergerlichen Systeme unter der theoretischen Kritik der Gelehrtenrepublik bedeutet. Der Gedanke ist hier wie dort, dass letztlich die Moral die Faeden der Politik indirekt an sich ziehen wird.
Der Schlusssatz von Kants Aufklaerungsschrift lautet konsequent: „Wenn denn die Natur unter dieser harten Huelle den Keim, fuer den sie am zaertlichsten sorgt, naemlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat; so wirkt dieser allmaehlich zurueck auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach faehiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsaetze der Regierung, die es ihr selbst zutraeglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Wuerde gemaess zu behandeln“ (Kant 1923, AA VIII: 41-42).
Im Licht der Geschichte der letzten zweihundert Jahre kom- men
aber, so Habermas, drei Entwicklungen entgegen, die die Kantischen Praemissen
fragwuerdig und sein Konstrukt reformbeduerftig erscheinen lassen. „Wenn
die Natur unter dieser harten Huelle…“ schreibt Kant und er traut dabei,
so Habermas, im Hinblick auf den Weltfrieden drei natuerlichen Tendenzen,
naemlich:
der republikanischen Regierungsart,
der Kraft des Welthandels
und der Funktion der politischen Oeffentlichkeit.
Zum ersten:
Kant konnte nicht erkennen, dass Republiken sich zu nationalistischen
Staaten entwickeln wuerden, wo also die Menschen doch nur „als Maschinen“
gebraucht wurden. Zugleich aber tendieren demokratische Staaten sich „weniger
bellizistisch“ zu verhalten als autoritaere Regime.
Zum zweiten:
Der freie Handelsgeist muendete in die kapitalistische Ausbeutung,
in Imperialismus und Buergerkrieg. Erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts
fuehrten zu einer Abschwaechung der einzelstaatlichen Interessen zugunsten
„einer eigentuemlichen Diffusion der Macht selber“.
Zum dritten:
Kant rechnete mit der Moeglichkeit einer oeffentlichen freien Diskussion
ueber das Verhaeltnis zwischen den Verfassungsprinzipien und den „lichtscheuen“
Absichten der Regierungen. Dabei rechnete er, so Habermas, „natuerlich
noch mit der Transparenz einer ueberschaubaren, literarisch gepraegten,
Argumenten zugaenglichen Oeffentlichkeit, die vom Publikum einer vergleichsweise
kleinen Schicht gebildeter Buerger getragen wird.“ Kant dachte also, kurz
gesagt, an die Oeffentlichkeit der „Gelehrten“. Was er nicht voraussehen
konnte, war, so Habermas, „den Strukturwandel dieser buergerlichen Oeffentlichkeit
zu einer von elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten,
von Bildern und virtuellen Realitaeten besetzten Oeffentlichkeit.“ Kant
konnte also nicht, wiederum kurz gesagt, mit der Informationsgesellschaft
rechnen.
Habermas laesst aber dabei beiseite, dass fuer Kant die ’sprechende‘ Aufklaerung eine ’schreibende‘ sein sollte und zwar gerade aufgrund der von ihm „hellsichtig“ (Habermas) antizipierten weltweiten Oeffentlichkeit. Dass es eher Habermas ist, der an eine ’sprechende‘ Aufklaerung denkt, zeigen seine Beispiele von UNO-Konferenzen. Ob Kants duales System die Vermittlung zwischen Moral, Recht und Politik so vernachlaessigt, wie Habermas meint, scheint mir fraglich.
Entscheidend ist die Tatsache, dass im Informationszeitalter die gedruckten
Schriften nicht mehr als das Medium der Aufklaerung gelten koennen, was
aber Kant nicht voraussehen konnte. Allerdings beduerfte es der totalitaeren
Erfahrungen des 20. Jahrhunderts bis am 10. Dezember 1948 die Vereinten
Nationen die „Allgemeine Erklaerung der Menschenrechte“ verabschiedeten.
Im Artikel 19 heisst es: „Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsaeusserung;
dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhaengen
und Informationen und Ideen mit allen Verstaendigungsmitteln ohne Ruecksicht
auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“ (Heidelmeyer 1982).
Habermas versucht Kants Idee des Ewigen Friedens „angesichts der heutigen Weltlage“ zu reformulieren. Er postuliert erstens, die Institutionalisierung eines Weltbuergerrechts ausgestattet mit Handlungsfunktionen, zweitens, verlangt er nach einem Strafgerichtshof und, drittens, schlaegt er vor, das Problem einer „stratifizierten“ Weltgesellschaft, oder, anders gesagt, das Problem der Spannungen zwischen der ‚ersten‘ und der ‚dritten‘ Welt, mit Hilfe eines umspannenden Grundkonsenses im Rahmen der Vereinten Nationen zu loesen. Dieser Konsens bestuende darin, dass alle Mitglieder akzeptieren, gleichzeitig in Frieden zu leben, obwohl sie politisch, oekonomisch und kulturell ungleichzeitige Entwicklungen vollziehen, ferner in einer normativen Uebereinstimmung ueber Menschenrechte, jenseits von strittigen kulturbedingten Interpretationen, und schliesslich im Einverstaendnis bezueglich eines anzustrebenden Weltfriedens, anstelle eines bloss zu vermeidenden (Welt-)Krieges.
Ich finde Habermas‘ Diagnose ueber die Lage der politischen Oeffentlichkeit und seinen Therapievorschlag mangelhaft. Habermas aeussert sich ganz unmissverstaendlich und im pejorativen Sinne kulturkritisch, wenn er ueber den Wandel von einer „transparenten“, „literarisch gepraegten, Argumenten zugaenglichen Oeffentlichkeit“ zu einer „von elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten (sic!) (vielleicht: ‚degenerierten‘? RC), von Bildern und virtuellen Realitaeten besetzten Oeffentlichkeit“ spricht.
Er ist dabei offenbar mit der medialen Verunreinigung seiner rationalen Kommunikationsgemeinschaft ganz und gar unzufrieden. Anstelle des Kantischen Dualismus zwischen Buergerpflicht und Gelehrtenfreiheit, gilt jetzt der Dualismus zwischen der Pseudo-Oeffentlichkeit der sprachlosen und/oder Irrealitaeten verbreitenden Massenmedien versus einem in der UN institutiona- lisierten Weltdialog auf einer erst herzustellenden Konsensba- sis. Habermas betrachtet die UN-Konferenzen als „blosse Themati- sierung ueberlebenswichtiger Probleme“, als Appelle an die „Weltmeinung“, und gesteht den nichtstaatlichen Organisationen, den NGOs (Non-Governmental Organizations), eine gewisse Rolle bei der „Herstellung und Mobilisierung uebernationaler Oeffentlichkeiten“.
Er wuerdigt immerhin die Moeglichkeiten der elektronischen Massenmedien fuer die NGOs bei der Schaffung einer solchen „international vernetzten Zivilgesellschaft“. Zugleich aber belegter, gleichsam mit Affekt, die Umfunktionierung der ’sprechenden‘ Aufklaerung (in Wahrheit sollte sie ja eine ’schreibende‘ sein) „sowohl fuer eine sprachlose Indoktrination wie fuer eine Taeuschung mit der Sprache“! Diese Aussage wirkt zunaechst widerspruechlich, denn wo sprachlose Indoktrination, kann kaum einer Taeuschung mit der Sprache stattfinden. Wenn man beide Moeglichkeiten auseinanderhaelt, wirkt diese Verurteilung oberflaechlich und pauschal: Die Bilder der Massenmedien (zwei Pauschalierungen) werden zu Indoktronationszwecken gesendet. Wer sendet sie? Inwiefern? Welche Doktrinen? Und dort wo gesprochen (weitere Pauschalierung), handelt es sich auch um eine Taeuschung (abermalige Pauschalierung): Wir machen uns vor, mit rationalen Argumenten (die gibt es offenbar irgendwo in biotopischer Frankfurter Reinkultur) umzugehen.
Um mit Kant gegen Habermas zu argumentieren: Auch und gerade ueber Weltinstitutionen mit ihren Prinzipien und Erklaerungen ist eine medial hergestellte Weltoeffentlichkeit anzusetzen, wo jeder universaler Konsens dem autonomen Vernunftgebrauch unterstellt werden kann. Das hierfuer eine Weltvernetzung, wozu das heutige Internet nur eine bescheidene Vorstufe sein mag, ganz andere von Kant nicht geahnte Moeglichkeiten von Kritik und Dissens – aber auch, wie anschliessend zu zeigen ist, von Kolonialisierung und Gleichschaltung – als die gedruckten Schriften bietet, duerfte klar sein.
Die globale elektronisch-vernetzte und multimediale Kommunikation ist in der Tat weder Kants „Leserwelt“ der Gelehrten noch Habermas‘ transparente Gesellschaft der rational „face-to-face“ Argumentierenden, aber sie koennte eher stratifizierte Grenzen der Weltoeffentlichkeit auflokern als eine womoeglich scheinbar konsensuelle Prinzipienvereinbarung, bei deren Anwendung die „lichtscheuen“ Absichten der Regierungen verdeckt bleiben, wenn man sie nicht in Kantischen Sinne oeffentlich kritisiert.
II. INFORMATIONSETHIK HEUTE
Damit will ich keineswegs bestreiten, dass die heutige Vernetzung der Weltoeffentlichkeit, sowohl was Massenmedien, wie Rundfunk und Fernsehen, als auch, was Internet anbelangt, weit entfernt von einer Chancengleichheit zwischen der ‚ersten‘ und der ‚dritten‘ Welt ist. Die Kluft zwischen den Informationsreichen und den Informationsarmen wird sich womoeglich verschaerfen, ja sie ist in vieler Hinsicht (z.B. Aufbau und Verteilung von Netzen und Servern, ‚computer literacy‘) bereits stratifiziert.
Aber aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren koennen wir uns fragen, ob die Art von Weltoeffentlichkeit, die sich Kant mit Hilfe der Schriften ertraeumt hat, nur im entferntesten mit dem vergleichbar ist, was die elektronische Weltvernetzung bietet oder bieten kann. Aus der UN eine Art Weltgewissen konstruieren zu wollen und dieses einer unuebersichtlichen, sprachlosen, indoktrinierenden und taeuschenden medialen Oeffentlichkeit gegenueberzustellen, laeuft den eigentlichen Intentionen Kants zuwider.
Wenn nach einem informationsethischen Weltkonsens auf der Grundlage der Menschenrechte heute gesucht wird, dann koennte Habermas‘ Idee eines universalen Grundkonsenses zum Beispiel in Form einer UN-Informationsagentur (unter dem Dach der UNESCO?) konkretisiert werden. Es wuerde aber bedeuten, Kant auf den Kopf zu stellen, wuerde man aus dieser institutionalierten Weltoeffentlichkeit in Sachen Informationsfreiheit den nicht mehr hinterfragbaren Horizont des eigenen Vernunftgebrauchs zu machen. Fuer Habermas ist aber, so scheint es, die UN selbst der Ort der rationalen Diskussion, waehrend die elektronischen Medien stellen, zumindest teilweise, eine Bedrohung, ja Irrefuehrung des rationalen Denkens dar.
Aber auch und gerade eine universale Institution bleibt, wie im Falle einzelstaatlicher Institutionen, eine Instanz, wodurch die Partikularinteressen der Teilnehmerstaaten sich artikulieren koennen. Aber nicht nur diese Artikulation bedarf der Moeglichkeit einer kritischen Ueberpruefung mit dem eigenen Verstande, sondern auch ihre Grundlage, die Menschenrechte selbst also, beduerfen einer staendigen oeffentlichen Revision.
Der von Habermas ersehnte Konsens und der sich daran anschliessende institutionalisierte Diskurs muessen, der Kantischen Intention nach, permanent der oeffentlichen nicht-institutionalisierten Kritik unterzogen werden. Denn auch ein UN-Amt ist ein Amt und schraenkt den Gebrauch der Vernunft auf den erreichten Minimalkonsens ein. Schaffen wir aber keine UN-Informationsagentur, dann haben wir kein fachkundiges internationales Forum, wo internationale Konflikte bis hin zu ‚cyberwars‘ geloest oder entschaerft werden koennten.
Die Spannweite gegenwaertiger nationaler Bemuehungen um die Kontrolle des „free flow of information“ reichen von Clinton/Gore Global Information Infrastructure (GII), ueber die bayerischen Pornographieparagraphen bis hin zu protektionistischen und fundamentalistischen Hemmnissen aller Art. Was dabei zum Vorschein kommt, ist, dass das allgemeine Menschenrecht auf freie Meinungsaeusserung und auf informationelle Selbstbestimmung nicht losgeloest staatlichen Verfassungen sowie von kulturellen Traditionen aufgefasst werden sollte.
MIT-Praesident Charles M. Vest hat in seinem Bericht fuer das Studienjahr 1994/95 die offene Frage nach dem Verhaeltnis zwischen der Globalisierung des Informationsmarktes und den Nationalstaaten folgendermassen formuliert: „Wir wissen nicht wie sich die rasche Ausbreitung vernetzter elektronischer Kommunikation auf den Nationalstaat auswirken wird. Die enorme kollektive Bandbreite des Internet unterscheidet es betraechtlich vom Telephon, und es besitzt das Potential, eine neue Art „Gesellschaft“ zu schaffen. Wir koennen nicht voraussagen, ob wir eine Gesellschaft sehr lokaler Netze haben werden, die sich um Individuen und kleine Gruppen zentrieren, oder eine globale Gesellschaft, und wir wissen auch nicht, wie diese Entwicklungen zu steuern waeren, selbst wenn wir uns ueber die erwuenschten Ergebnisse klar waeren.“ (Vest 1996)
Bringt uns der weltweit-vernetzte Informationsmarkt dem Traum der Aufklaerung einer zensurfreien Mitteilung naeher oder entstehen, aehnlich wie im Falle des ‚freien‘ Austausches von Waren, neue Formen von Krieg und Unterdruekung? Eine UN-Informationsagentur koennte als Katalysator wirken. Wir sollten uns dabei weder durch die gegenwaertige prekaere finanzielle Lage der UN noch durch die schon unternommenen und zum Teil fehlgeschlagenen Anstrengungen diesbezueglich entmutigen lassen. Eine solche Agentur koennte weltweite virtuelle Agenten vernetzen und beduerfte keineswegs eines aufgeblaehten und teueren Verwaltungsapparats. Politische Institutionen, beduerfen aber „oeffentlicher“ Foren im Kantischen Sinne, eine Rolle die in der „Gutenberg-Galaxis“ (McLuhan) vor allem die Pressenfreiheit erfuellte (und noch erfuellt).
Kant konnte nicht voraussehen, dass die Welt der Gelehrtenschriften sich zu einer unueberschaubaren ‚Gutenberg- Galaxis‘ des Gedruckten entwickeln wuerde, und er konnte auch nicht die heute im Entstehen sich befindende ‚GOLEM-Galaxis‘ erahnen (Capurro 1996). Fuer ihn bestand das Problem des freien Mitteilungsraums des Gedruckten darin, die Macht von Politik und Kirche ‚in theoreticis‘ einzuschraenken. Heute hat sich die Situation teilweise umgedreht: Die Regierungen stehen vor der Frage, wie sie, angesichts der weltweiten Vernetzung, ihre relative Autonomie aufrechterhalten koennen. Die Spannungen zwischen individueller und kollektiver informationeller Selbstbestimmung wachsen. Schritte zu einem Weltinformationsrecht sind notwendig.
Aber wir brauchen, darueber hinaus, die Pflege einer Weltinformationskultur. Auch wenn die Diagnose, wir befaenden uns auf dem Weg in eine Gesellschaft der Kommunikationslosigkeit ueber zogen erscheinen mag (Galeano 1996), ist es nicht zu uebersehen, dass Herrschaft und Ausbeutung in Weltpolitik und Welthandel durch die elektronische Informationszirkulation wesentlich mitbestimmt werden. Information ist eine Ware, welche dem Prozess von Angebot und Nachfrage untersteht. Sie ist aber auch eine diese Prozesse mitbestimmende Komponente. Als Ausgleich zu dieser Oekonomisierung des Wissens sollten wir im Rahmen einer Weltinformationskultur tradierte Strukturen des freien Meinungsaustausches, wie z.B. oeffentliche Bibliotheken, modernisieren und neue Strukturen einer freien elektronisch vermittelte Weltoeffentlichkeit gestalten und schuetzen.
Kants duales System muss sowohl mit Bezug auf die Weltvernetzung als auch auf die Rolle der UN reformuliert werden. Dabei mag die Frage nach dem Schutz des eigenen Vernunftgebrauchs gegenueber der politischen Macht sich teilweise umgekehrt haben: Freies Angebot und weltweite Zugaenglichkeit der Netze stehen oft im Widerspruch zu einzelstaatlichen Gesetzen ja zu einem ganzen gesellschaftlichen System. Die selbstregulierenden Kraefte der Netzteilnehmer sowie staatliche Massnahmen reichen oft nicht aus, um die ‚bad guys‘ aus dem Verkehr zu ziehen, so dass eine institutionelle Weltinstanz zur Loesung von Konflikten beitragen koennte, ohne sie aber zu einer Weltzensurbehoerde zu erheben.
In einem vernetzten Weltinformationsmarkt stehen Fragen der Ausbeutung, Monopolisierung und Kolonialisierung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure an der Tagesordnung. Ihre Kehrseite sind Informationsutopien und -ideologien. Was ist Aufklaerung heute? Sie ist Aufklaerung ueber die Aufklaerung. Anstatt einem bestimmten angeblich verunreinigten Kommunikationsideal nachzutrauern, sollten wir zum Beispiel darueber nachdenken, ob die Weltvernetzung uns global naeher, ich meine, weltvernetzt naeher zueinander bringt, oder ob die Stratifizierung zwischen der ‚ersten‘ und der ‚dritten‘ Welt sich weiter verschaerft. Die Kluft zwischen Informationsreichen und Informationsarmen ist noch kaum erforscht, ja diese Begriffe muessten erst genau analysiert werden.
Die Welt der Information ist die Welt der Meinungen, der ‚doxa‘. Sie ist die Kehrseite der Aufklaerung im Sinne der ‚episteme‘ von Kants Gelehrtenrepublik. Beides, ‚doxa‘ und ‚episteme‘ bedingen sich gegenseitig. Der Bodem auf dem die Kantische Gedankenfreiheit steht, ist die Mitteilungsfreiheit. Im Unterschied zum damaligen Aufklaerungsideal , ziehen wir aber die Grenze zwischen ‚doxa‘ und ‚episteme‘ nicht mehr so deutlich. Denn Wissenschaft ist dadurch ausgezeichnet, dass ihre Aussagen begruendete oder bewaehrte Meinungen sind, wie die Wisssenschaftstheorie dieses Jahrhunderts lehrt. Ferner, koennen wir aus dem Abstand von zweihundert Jahren eine explosionsartige Zunahme der Meinungsdiffusion, ueber staatliche Grenzen hinweg, feststellen.
Wir muessen nicht, wie noch Kant, um ein Minimum an Mitteilungsfreiheit kaempfen, sondern wir haben die Qual der Wahl. Deshalb auch die These: Aufklaerung heute ist Aufklaerung ueber Aufklaerung. Wir muessen dabei nicht nur lernen mit dem Informationsueberfluss umzugehen, sondern auch neue Formen von Ausbeutung aufdecken und wir muessen Strukturen eines sozialen Informationsmarktes schaffen. Letztlich muessen wir den Mythos Information selbst aufklaeren. Denn nachdem die politischen und religioesen Vormuender durch leidvolle Erfahrungen relativiert wurden, waere es moeglich, dass der Wunsch: „Habe ich ein Buch, das fuer mich Verstand hat, einen Seelsorger, der fuer mich Gewissen hat, einen Arzt, der fuer mich Diaet beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemuehen“ (Kant 1923, AA VIII), dass dieser Wunsch also durch: ‚Habe ich einen Netzanschluss, der mir mit Meinungen und Gewissen versorgt u.s.w.‘ ersetzt wird, so dass der Entschluss sich des eigenen Verstandes zu bedienen, lahmlegt wird. Man sieht, die Probleme einer heutigen Informationsethik zeigen sich bereits umrisshaft.
LITERATUR
Capurro, R.: Leben im Informationszeitalter, Berlin 1996.
Capurro, R., Wiegerling, K., Brellochs, A. Hrsg.: Informationsethik,
Konstanz 1995.
Galeano, E.: Vers une societe de l’incommunication? In: Le Monde Diplomatique,
16 – Janvier 1996.
Habermas, J.: Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem historischen
Abstand von 200 Jahren. In: Information Philosophie 5, Dezember 1995, S.
5-19.
Heidelmeyer, W. Hrsg.: Die Menschenrechte. Erklaerungen, Verfassungsartikel,
Internationale Abkommen, Paderborn u.a. 1982, 3. Aufl.
Kant, I.: Gesammelte Schriften. Hrsg. Preuss. Akademie der Wissenschaften,
Berlin 1910 ff.
Vest, Ch. M.: Aus dem Brevier des Unwissens. In: DIE ZEIT, Nr. 2, 23.
Februar 1996, S. 56.