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Diskussionsbeiträge

Stanislaw Lems Vision vom Internet aus dem Jahre 1956

Stanislaw Lems Vision vom Internet aus dem Jahre 1956
– damals nur Science Fiction, heute z.T. schon Wirklichkeit:
die weltweite Verbreitung multimedialer Information über ein weltweites Netz.
Alle Texte sind in einer ‚Weltsprache‘ verfasst und können über einen
‚Taschenempfänger‘ und einen Fernseher abgerufen und von allen Nutzern
parallel gelesen werden.


Der folgende Textausschnitt stammt aus: Stanislaw Lem: Gast im Weltraum. Utopischer Roman. 1. Aufl. 1956. Zitiert nach der deutschen Ausgabe, 6. Auflage 1966, Verlag Volk und Wissen, Berlin (DDR), S. 160 – 166. Seitenangaben in Spitzklammern zu Beginn der Seite. Umsetzung in neue Rechtschreibnorm.

Der Roman spielt im Jahr 3089 n. Chr. Er geht vom (im Roman als lange zurückliegend vorgestellten) Sieg des Kommunismus aus, doch tut dies an dieser Stelle nichts zur Sache. Der ‚Held‘ fliegt in dem Raumschiff ‚Gea‘ mit etwa 50 % der Lichtgeschwindigkeit zum nächsten Sonnensystem (Alpha Zentauri).

Stanislaw Lem (1956)

Trione

Jeder von uns beherrscht selbstverständlich die Kunst des Schreibens. Aber nur selten kommt man dazu, sie zu gebrauchen. Was die Schrift selbst anbelangt, muss ich gestehen, dass das Können und die Kunstfertigkeit der Alten auf diesem Gebiet mir stets Bewunderung abnötigt. Wenn ich gezwungen bin, mehr als ein paar Sätze zu schreiben, spüre ich sofort eine so starke Ermüdung der Hand, dass ich eine längere Pause einschieben muss. Die Historiker erklärten mir, dass sich in früheren Zeiten, als das Schreiben den Kindern von frühester Jugend an beigebracht wurde, der Organismus entsprechend anpasste. Die Menschen konnten damals angeblich stundenlang ohne Unterbrechung schreiben. Ich will es gern glauben, obgleich es mir eigenartig vorkommt.

Noch sonderbarer scheint mir der Starrsinn oder der Konservatismus, mit dem viele Jahrhunderte lang eine geradezu archaische Art der Aufstapelung jedweden Wissens in Büchern gepflegt wurde, die aus Papier hergestellt waren. Meiner Ansicht nach ist dies ein guter Beweis für das Beharrungsvermögen von Gewohnheiten, die von Geschlecht zu Geschlecht überliefert werden. Durch solche Produktionsweisen erschweren sich die Menschen die Bewältigung der Probleme, die sich, von der Tradition gelöst und gründlich durchdacht, viel einfacher und schneller klären lassen.

Geschriebene Dokumente existieren, soweit mir bekannt ist – meine historischen Kenntnisse sind sehr gering -, seit vielen tausend Jahren. Die verschiedenen Epochen schufen unterschiedliche Schriftformen und -arten. Die Erfindung des Buchdrucks brachte wohl eine beträchtliche Erleichterung und bedeutete einen großen Fortschritt; aber ich glaube doch, dass bereits im 20. oder 21. Jahrhundert eine solche Stapelung von Informationsmaterial und schöngeistigen Werken ein Anachronismus war, der eine Belastung darstellte. Bekanntlich gab es damals so genannte öffentliche Bibliotheken, die unablässig ihren Bestand an Druckerzeugnissen ergänzten. Am Ende des 20. Jahrhunderts besaß bereits jede große Buchsammlung einige Millionen Bände. Durch den Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt und die damit verbundene Verallgemeinerung der Bildung und Kultur wurde [S. 161] dieser Prozess wesentlich beschleunigt. Die Zentralbibliotheken der Kontinente hatten im Jahre 2100 durchschnittlich neunzig Millionen Bände. Ihr Grundbestand verdoppelte sich alle zwölf Jahre, so dass ein halbes Jahrhundert später die größten von ihnen, die Bibliotheken in Berlin, London, Leningrad und Peking, je siebenhundert Bibliothekare beschäftigten. Damals berechnete man, dass hundert Jahre später ungefähr dreitausend und nach weiteren zweihundert Jahren mehr als hundertachtzigtausend Menschen in jeder dieser Bibliotheken beschäftigt werden müssten. Unwillkürlich drängt sich die groteske Vision einer mit einer dicken Schicht von Büchern und Katalogen bedeckten Welt um das Jahr 2600 auf. Die Menschheit hätte nur noch aus Bibliothekaren bestanden, die über unaufhörlich anwachsende Bücherstöße wachten, da der Prozess des Veraltens und des dadurch bedingten Ausscheidens aus den Bibliotheken in dieser Epoche eines immer umfangreicheren geistigen Schaffens viel langsamer war als das Tempo, in dem neue Werke erschienen. Die Neuerungen, die in der ersten Hälfte des dritten Jahrtausends vorgenommen wurden, hatten ausgesprochen konservativen Charakter. Bibliotheken wurden geschaffen, die auf verschiedene Gebiete spezialisiert waren und zahllose Mikrofilme herstellten. Die Konstruktion katalogisierender Automaten beseitigte die bedrückende Vision einer Menschheit, die zu einem riesenhaften Kollektiv von Bücherwächtern wurde. Es entstanden aber weiterhin Kataloge von Katalogen, Bibliographien von Bibliographien. Dieser Vorgang wurde immer komplizierter, so dass um das Jahr 2400 ein Wissenschaftler, der ein altes Werk als Quelle für seine Studien brauchte, häufig wochenlang warten musste – ein Zustand, der uns unsinnig scheint, wenn man, bedenkt, dass die Menschen damals schon über die technischen Mittel verfügten, die ihnen gestatteten, diese alles erschwerende Situation gründlich zu ändern.

Trotzdem wurde die Diskrepanz zwischen den archaischen Formen der Konservierung menschlichen Wissens und seinem neuen Gehalt bis Mitte des dritten Jahrtausends noch schärfer. Erst im Jahre 2531 wurde auf einem Weltkongress der hervorragendsten Spezialisten eine völlig neue Art der Verewigung menschlichen Wissens und Denkens festgelegt.

Man bediente sich der längst entdeckten, bis dahin aber nur in der Technik verwendeten Trione. Die Trione sind Quarzkristalle, [S. 162] deren Molekularstruktur durch die Einwirkung elektrischer Schwingungen ständig verändert werden kann. Ein solcher Kristall, nicht größer als ein Sandkörnchen, vermag den Inhalt einer ganzen Enzyklopädie zu fassen. Die Reform beschränkte sich indessen nicht darauf, die Art der Aufbewahrung schöngeistiger und wissenschaftlicher Werke grundsätzlich umzugestalten. Entscheidend war die Einführung einer qualitativ neuen Methode der Verwendung von Trionen. Eine zentrale Trionenbibliothek für die ganze Erde wurde geschaffen, in der ohne Ausnahme alle Früchte geistiger Art gesammelt und aufbewahrt werden. Besonders mühevoll war es, alle aus den alten Kulturen stammenden Werke in die Weltsprache zu übersetzen, damit auch sie in der Trionenbibliothek vollständig vorhanden und für jeden zugänglich waren. Diese gigantische Sammlung aller geistigen Schöpfungen der Menschheit besitzt eine technische Einrichtung, die es allen Bewohnern der Erde ermöglicht, rasch und ohne Schwierigkeit jede Information zu erhalten, die in den Milliarden Kristallen aufbewahrt wird. Man braucht dazu ein einfaches Fernsehgerät. Wir benutzen es heute, ohne über die Leistungsfähigkeit, den Nutzeffekt und das Ausmaß dieses ungeheuren, unsichtbaren Informationsnetzes, das den ganzen Erdball umspannt, nachzudenken. Wie oft hat jeder von uns, in seinem Arbeitszimmer in Australien oder in einem der Mondlaboratorien, nach dem Taschenempfänger gegriffen, die Zentrale der Bibliothek angerufen und das gewünschte Werk angefordert, um es bereits eine Sekunde später im Fernsehschirm vor sich zu haben. Keiner von uns überlegt, dass es nur der Vollkommenheit dieser Einrichtungen zu danken ist, wenn beliebig viele Interessenten jeden Trion gleichzeitig benutzen können, ohne einander auch nur im Geringsten zu stören.

In den ersten Jahrhunderten nach dieser Reform gab es noch Buchsammlungen, die das Privateigentum einzelner Gelehrter waren. Das ist zweifellos der Beweis für das Vorhandensein eines Konservatismus, der ihnen einredete, dass man einen papierenen Band, der auf dem Bücherregal im Zimmer steht, rascher zur Hand hat als einen Trion in der vielleicht tausend Kilometer entfernten Zentralbibliothek. Es gibt nichts Irrigeres als eine solche Ansicht. Um ein Buch zu benutzen, muss man aufstehen, an das Regal oder den Bücherschrank gehen und das gewünschte Werk auswählen. All das dauert wenigstens einige [S. 163] Sekunden. Von dem Anruf in der Trionenbibliothek und der Angabe des Kennwortes bis zu dem Augenblick, in dem das verlangte Werk auf dem Bildschirm erscheint, vergeht nur so viel Zeit, wie die Automaten in der Katalogzentrale und die Radiowellen benötigen, um den Raum zu überbrücken, der die Bibliothek von dem Anrufenden trennt. Das sind gewöhnlich nur Bruchteile einer Sekunde.

Ein Trion vermag nicht nur Fotografien von Buchseiten, Karten, Bildern, Diagrammen, Tabellen – kurz, von all dem, was man in einer Form dem Blick zugänglich machen kann, die ein Ablesen ermöglicht – zu speichern, sondern es ist auch im Stande, Töne – also menschliche Laute und Musik – naturgetreu aufzunehmen und wiederzugeben. Es besteht sogar eine Methode, Gerüche festzuhalten. Mit einem Wort, jede sinnlich wahrnehmbare Erscheinung kann im Trion fixiert und auf Anforderung dem Empfänger mitgeteilt werden. Darüber hinaus kann ein Trion Produktionsvorschriften enthalten: Ein Automat, der mit ihm durch Radiowellen verbunden ist, fertigt einen bestimmten gewünschten Gegenstand an. Auf diese Weise ist es möglich, selbst das Gelüst eines Phantasten zu befriedigen, der zum Beispiel altertümliche Möbel oder außergewöhnliche Kleider haben möchte. Unser Fernsehen ist im Gegensatz zu dem Fernsehen im Mittelalter plastisch und farbig. Es vermittelt ein wirklichkeitsgetreues Bild, und der Mensch, der vor dem Fernsehempfänger sitzt, kommt gar nicht auf den Gedanken, dass der betrachtete Gegenstand zwar in der Form, in der er vor ihm erscheint – als gewichtiges Buch, als farbiger Stich oder als Bruchstück eines Minerals -, tatsächlich existiert, dass er aber nur ein räumliches Bild ist, entstanden im elektrischen Feld, hervorgerufen durch den Trion, den sein Befehl in Bewegung gesetzt hat.

Die Rolle der Trione wäre bereits bedeutend, wenn sie nur die unbequeme, altertümliche Aufspeicherung des Wissens beseitigten, wenn sie jedem von uns die Möglichkeit gäben, aus den Werken der Gegenwart und der Vergangenheit Nutzen zu ziehen, Theaterstücke, Sinfonien, Dichtungen zu hören, an allen Schätzen der Kultur teilzuhaben, und wenn sie nur dazu beitrügen, das Verteilungssystem der Konsumtionsgüter zu vereinfachen. Aber sie erwiesen sich als weit bedeutsamer; denn sie leiteten eine Ära psychischer Wandlungen ein, die sich die ersten Reformatoren nicht hätten träumen lassen. [S. 164]

Das Problem des Einmaligen bereitete den Theoretikern der kommunistischen Gesellschaft in ihrer frühen Entwicklungsphase schwere Sorgen. Der Grundsatz „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ schien in diesem einen Fall nicht realisierbar. Auf der Erde gab es nämlich Dinge, die nur in wenigen oder einzelnen Exemplaren existierten, zum Beispiel Gemälde berühmter Meister, Skulpturen und ähnliche Kostbarkeiten. Es war klar: Ein solches Unikat konnte entweder nur einem Menschen gehören oder man musste es als gesellschaftliches Eigentum allen zugänglich machen. Natürlich beschritt man den Weg der Sozialisierung. Aber damit waren nicht alle einverstanden. Gewiss war es möglich, naturgetreue Kopien anzufertigen und zu vervielfältigen. Sie waren und blieben aber Kopien. Der von früheren Gesellschaftsformen übernommene Begriff des Eigentums trieb die sonderbarsten Blüten. Eine war die so genannte Sammelmanie: Die Leute, die von ihr befallen wurden, sammelten die verschiedensten Gegenstände, von Kunstwerken über Münzen bis zu getrockneten Pflanzen. Das war also eine der Sackgassen des komplizierten Problems „Eigentum“. Aber das war nicht die einzige Schwierigkeit. Die ständig wachsende Produktion von Gütern aller Art gestattete jedem, sich mit allem zu versorgen, was er wünschte, ganz gleich, ob er diese Dinge tatsächlich benötigte oder ob sie lediglich seinen „Besitzhunger“ stillen sollten. Diese Freude, die allein der Tatsache entsprang, „etwas zu besitzen“, scheint uns sinnlos, ja geradezu lächerlich; aber damals gebar sie viele Probleme, die schwer zu lösen waren. Man behauptete zum Beispiel allen Ernstes, künftig würde jeder so viele Sachen haben, dass über die Automaten, denen die Wartung und Pflege dieses Eigentums oblag, andere Automaten die Aufsicht führen müssten, über diese wieder andere und so weiter. Das war ein neuer, grotesker Aspekt einer von den Vorfahren übernommenen konservativen psychischen Einstellung. Die Anwendung der Trionentechnik beseitigte diese Pseudoprobleme. Wir können heute jeden Gegenstand, der existiert, durch den Trion haben, das heißt durch die Vermittlung des entsprechenden Trions. Wenn jemand das Bild des alten Meisters Leonardo da Vinci, das die Mona Lisa darstellt, haben will, so mag er es durch ein Trion übermitteln lassen, in einem Fernsehrahmen aufhängen und sich daran erfreuen, bis es ihm langweilig wird. Ein Druck auf den Schalter genügt, und es verschwindet. (S. 165)

Das Problem „Original“ ist kein Problem mehr, seit Quarzkristalle die Originale sind, an deren Besitz niemandem etwas liegt und liegen kann, da alles, was die Trionentechnik schafft, ein getreues Abbild der Wirklichkeit ist, bei dem man nicht von einer Kopie sprechen kann. Es weist nämlich die gleichen Strukturen auf wie das Original, ob es sich um Musikklänge, Bilder, Bücher oder etwas Anderes handelt, nur mit dem Unterschied, dass es sich jederzeit erneuern oder entfernen lässt. Es ist eine Art erfüllter Wünsche aus den alten Märchen. Niemand wundert sich darüber, im Gegenteil, uns kommen die Sitten und Gebräuche vergangener Zeiten sonderbar vor, weil man damals Hindernisse sah und suchte, wo es keine gab und wo keiner von uns welche sehen und suchen würde.

Der Sendebereich der Trionenzentrale erstreckt sich über unser ganzes Sonnensystem. Sogar die Passagiere der Raumschiffe, die die Jupiterbahn erreicht haben, können sich noch mit ihr in Verbindung setzen. Allerdings vergeht vom Augenblick des Anrufes bis zum Erscheinen der verlangten Sache desto mehr Zeit, je weiter das Schiff von der Erde entfernt ist. Auch die Gea empfing auf ihrem Flug zu den Sternen ununterbrochen einen mächtigen Strom von Trionensendungen. Die Zeitspanne zwischen dem gefunkten Signal und der Antwort wurde aber von Tag zu Tag größer. Als wir auf ein angefordertes Werk bereits zwölf Stunden warten mussten, wurde die Benutzung der Trionenzentrale der Erde für uns praktisch wertlos. Nun trat der große, von allen mit Spannung erwartete Augenblick ein, in dem auf die Trionen des Schiffes umgeschaltet werden musste.

Die Gea war das erste Raumschiff der Erde, das mit einem eigenen Trionenarchiv ausgestattet war. Natürlich war es nur eine Auswahl, trotzdem verfügte unsere Trionenbibliothek über ungefähr eine halbe Milliarde Trionen. Unsere Fernsehempfänger sollten in der Mittagsstunde des hundertsten Reisetages auf die Schiffszentrale umgeschaltet werden. Punkt zwölf Uhr gab der Erste Astrogator von der Steuerzentrale aus das Zeichen, und die Trionenbibliothek unseres Schiffes wurde in Betrieb genommen. Nun waren wir von den Sendungen der Erde abgeschnitten.

Natürlich pulste der Strom von Funkmeldungen zwischen der Gea und der Erde weiter. Mächtige Sendeanlagen gewährleisteten eine Verbindung bis ans Ziel unseres Fluges. Die Übertragung [S. 166] der Nachrichten dauerte aber immer länger. Anfangs waren es Tage. Wir lächelten und unterhielten uns darüber, dass die Zeiten der so genannten Post wiederkehrten, die mehrere Erdentage brauchte, um Nachrichten von einem Menschen zum anderen zu übermitteln. Dann lagen Wochen und Monate zwischen uns und der Erde. Die Radiowellen, die mit Lichtgeschwindigkeit den Raum durcheilen, mussten immer größere Entfernungen überwinden, bevor sie von der Erde zu uns oder von der Gea zur Erde gelangten. Mit der zunehmenden Entfernung wuchs unsere Einsamkeit mitten unter den Sternen.

(Gelesen von Harald H. Zimmermann)

Ergänzende Literatur:

Stanislaw Lem: Unter dem Fluch des Prävidismus
– Science Fiction, Künstliches Leben und die Möglichkeit der Voraussage. (16.01.1998)

=> http://www.heise.de/tp/deutsch/special/robo/6208/1.html

 

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