Diskussionsbeiträge
Bildungstechnologie als Herausforderung an die Campusuniversität
Ilse Harms Universität des Saarlandes FR 5.6 – Informationswissenschaft Postfach 15 11 50 D-66041 Saarbrücken email: i.harms@is.uni-sb.de
Dieser Aufsatz ist erschienen in: Mehrwert von Information – Professionalisierung der Informationsarbeit, Proceedings des 4. Internationalen Symposiums für Informationswissenschaft in Graz. Hrsg.: Rauch, W./Strohmeier, F./Hiller, H./ Schlögl, C., Konstanz, 1994, S. 549-558.
Inhalt
Zusammenfassung
Das derzeitige Modell einer „Campus-Universität“, das sich durch Zeit- und Raumgrenzen definiert, sieht sich einer Reihe von sich wechselseitig bedingenden Entwicklungen gegenüber, die eine Änderung dieses Modells erfordern. Der Beitrag beschäftigt sich mit den Voraussetzungen des Wandels und versucht einige Problembereiche herauszuarbeiten, die sich durch das Eindringen der Technologie in die gewachsenen Strukturen mit den vielfältigen Interdependenzen der einzelnen an der universitären Ausbildung beteiligten Elemente ergeben.Abstract
The existing modelof a campus-bound university which is defined in terms of time and place is confronted with a number of interdependent developments requiring changes in this model. The contribution deals with conditions for this change and tries to outline some problem areas resulting from the penetration of grown structures with their manifold interdependencies between the active units in higher education by the new technologies.1 Einleitung
In den letzten Jahren häufen sich die Artikel, Vorträge und Diskussionen zum Thema Kostenexplosion in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung, aber auch im staatlichen Bildungswesen – und hier sind v.a. die Hochschulen betroffen. Die Problematik wird skizziert durch die steigenden Kosten für Bildung bei gleichzeitig steigendem Bedarf an qualifizierender Aus- und Weiterbildung, die die Notwendigkeit nach „lebenslangem Lernen“, d.h. nach ständiger Nach- bzw. Weiterqualifikation einschließt. Damit kommt auf die Hochschulen ein neuer Adressatenkreis zu,d.h. ihr Aufgabenfeld wird durch die Weiterbildung von akademisch Vorgebildeten ausgeweitet.2 Technologische Entwicklung und Qualifikationsbedarf
Als ein maßgeblicher Agent des gesellschaftlichen Wandels wird allgemein die technische Entwicklung, d.h. die Informations- und Kommunikationstechnologien und die daraus resultierende Automatisierung der unterschiedlichsten Prozesse ausgemacht. Die rasche Einführung der neuen Technologien in alle Bereiche der Arbeitswelt hat zu arbeitsorganisatorischen Veränderungen geführt, aus denen veränderte und auch ganz neue Aufgabenfelder und demgemäß Qualifikationsanforderungen resultieren. Der sich verschärfende Wettbewerb auf dem Weltmarkt verlangt einerseits eine größere Produktvielfalt und andererseits kürzere Entwicklungszeiten und somit ein höheres Innovationstempo. Gleichzeitig sind die Qualitätsanforderungen gestiegen, d.h. an alle am Arbeitsprozeß Beteiligten werden höhere Anforderungen an ihre Qualifikation gestellt. Parallel zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung haben wir es mit einer sozialen Entwicklung zu tun, die zu einer Komprimierung der Erwerbsphase führt, mit den „Verknappungsparametern“ wie längere Vorerwerbsphase durch längere Ausbildungsphasen, zahlenmäßiger Rückgang der nachrückenden Jahrgangsstärken und früherer Eintritt in die Nacherwerbsphase (vgl. IAO 1994, 65). Durch die oben beschriebene Entwicklung im Bereich der Wirtschaft nimmt demnach die Menge des benötigten Wissens in der Erwerbsphase zu, während die Halbwertszeit des in der Erstausbildung gewonnenen Wissens abnimmt. Daraus folgt die Notwendigkeit eines lebenslangen Lernens, bzw. eine ständige Verbesserung des Wissensstandes. Das Streben nach „continous improvement“ ist auch die Kernforderung der Total-Quality-Management-Philosophie, die vor allem im produzierenden Gewerbe, speziell in der Automobilindustrie, nicht nur eine Willenserklärung, sondern die unternehmensweite Verpflichtung zur Umsetzung von Verfahrensweisen zur Qualitätssicherung ist. Diese Forderung nach ständiger Verbesserung bezieht sich nicht nur auf die Produktqualität, sondern ebenso auf die Unternehmensqualität. Für den weichen Faktor Qualität gibt es Indikatoren der Operationalisierung, und die internationale Standardisierung in Form der internationalen Norm ISO 9000 für die Mindestanforderungen an ein Qualitätsmanagementsystem schließt die Verfahrensweisen zur Qualifizierung der Mitarbeiter mit ein, denn „wenn die Fertigungstechnik weltweit ähnlich ist, die Produktionsunterschiede nur schwer herauszuarbeiten sind, alle relevanten Märkte einmal voll erschlossen sind, dann sind es die Mitarbeiter, die das bessere Unternehmen ausmachen“ (Kuehnheim 1990). Internationale Bench-Mark-Studien als branchenspezifische Orientierung am Weltbesten in allen Unternehmenbelangen weisen aus, wieviel DM pro Kopf die einzelnen Unternehmen für Qualifizierungsmaßnahmen ihrer Mitarbeiter ausgeben. Diese Weiterbildungsinvestitionen haben sich in den letzten Jahren zu einem beachtlichen Kostenfaktor entwickelt, und angesichts der Notwendigkeit der oft personalintensiven Qualifizierungsmaßnahmen ist das Interesse der Industrie an computerunterstützter Lerntechnologie unterschiedlichster Art nachzuvollziehen. Insgesamt erwartet man sich eine Steigerung der Effektivität und der Effizienz durch die Möglichkeit der umfassenden interaktiven Wissenspräsentationen, der Standardisierung und gleichbleibenden Qualität des Weiterbildungsangebots, der Dezentralisierung und jederzeitigen Verfügbarkeit von Schulung, der Individualisierung des Lehr- und Lernprozesses, der Flexibilisierung des Personaleinsatzes durch ein rasch verfügbares Schulungsangebot und der Reduzierung der Schulungszeit (vgl. Bilke 1991). Da die informationsverarbeitenden Systeme mittlerweile in allen beruflichen Feldern Eingang gefunden haben, bezieht sich der Bedarf an Weiterbildung oder Nachqualifizierung auch auf akademisch vorgebildete, d.h. berufstätige Hochschulabsolventen. Hier handelt es sich nun um einen Adressatenkreis, der – u.a. nach Aussagen des Wissenschaftsrates und der Hochschulrektorenkonferenz – in die Zuständigkeit der Hochschulen fallen soll.3 Neue Aufgabenfelder der Hochschulen
Diese Ausweitung des Aufgabenfeldes hat letztlich gesellschaftpolitische oder konkret bildungspolitische Gründe. Mit der Zunahme der Kosten für das staatliche Bildungswesen im allgemeinen und das Hochschulwesen im besonderen gerät auch die universitär verfaßte Wissenschaft v.a. angesichts der aktuellen rezessiven Wirtschaftsphase, plakativ belegt mit dem Schlagwort „Industriestandort Deutschland“, unter Legitimationszwang. Staat und Gesellschaft erwarten Leistungsnachweise, wie sie sich z.B. in Forderungen nach der Verwertbarkeit und Marktgängigkeit von universitären Leistungen in Lehre und Forschung dokumentieren. Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft sollen auch „Verbesserung der Dienstleistung durch Orientierung am Wettbewerb des Beratungs- und Weiterbildungsmarktes“ umfassen (Servatius 1993). Da es sich hier um eine Zielgruppe handelt, die i.d.R. weder zeitlich noch räumlich flexibel ist, zielen die Empfehlungen des Wissenschaftsrates auf ein Fernstudium, ggf. mit Präsenzphasen (Wissenschaftsrat 1992, 3). „In allen entwickelten Industriegesellschaften gilt es als ein wichtiges gesellschafts- und hochschulpolitisches Ziel, für den Personenkreis, der kein Studium an einer Präsenzhochschule aufnehmen kann oder in der Vergangenheit nicht aufnehmen konnte, möglichst breit gefächerte Fernstudien für seine wissenschaftliche Ausbildung anzubieten. Eine ebenso wichtige Aufgabe besteht darin, ein differenziertes berufsbezogenes Angebot für die wissenschaftliche Weiterbildung Berufstätiger bereit zu halten.“ Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau des Fernstudiums, dessen Träger Präsenzhochschulen sein sollten, und nicht eine ausschließlich für diesen Zweck institutionalisierte Einrichtung wie die später gegründete Fernuniversität Hagen, gab es bereits 1970 (vgl. Wissenschaftsrat 1970). Man versprach sich u.a. dadurch eine kapazitäre Entlastung der Präsenzhochschulen. Den aktuellen Anlaß für das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, in dessen Auftrag der Wissenschaftsrat die Situation des Fernstudiums erneut überprüfte, war die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, da sich das Fernstudium in der DDR hinsichtlich Stellenwert und Struktur von dem in der Bundesrepublik wesentlich unterschied. Ein weiterer Impuls ging von der europäischen Integration aus, insbesondere vom Memorandum „Offener Fernunterricht in der europäischen Gemeinschaft“. Durch die Nutzung der Potentiale des Offenen Fernunterricht, die v.a. in der Flexibilität in bezug auf Zeit, Raum, Inhalte und Lerntempo bestehen, und die durch die Einbindung der Informations- und Kommunikationstechnologien noch gesteigert werden sollen, verspricht man sich einen Abbau von Qualifikationsdefiziten in Europa. Die Integration von Offenem Fernunterricht und herkömmlichen Bildungsstrukturen zur Entwicklung von Humanressourcen wird gewünscht (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1991). Der Wissenschaftsrat (1992, 84) spricht sich deshalb für ein „Verbundmodell aus zentralen Fernstudieninstitutionen und Präsenzhochschulen, die im Fernstudium aktiv werden“, aus. Zur Förderung und Steuerung der angestrebten Aktivitäten wurde die Einrichtung einer „Fachkommission Fernstudium“ als Unterausschuß des Ausschusses Bildungsplanung der BLK mit dem Förderschwerpunkt „Fernstudium“ zur Finanzierung von Fernstudienprojekten angeregt. Diese Fachkommission hat nun in ihrem ersten Bericht vier Fördersektionen festgelegt, wobei in vorliegendem Zusammenhang v.a. die 3. Fördersektion „Studienangebote“ von Interesse ist. Hier heißt es: „Besondere Bedeutung kommt der Entwicklung von grundständigen Fernstudienangeboten zu, die eine gezielte Entlastung stark nachgefragter Studiengänge an Präsenzhochschulen bewirken können. Dies kann insbesondere in modularisierten Teilabschnitten von Fernstudienangeboten bestehen, die von den Präsenzhochschulen in das Lehrprogramm – auch für Zwecke der Weiterbildung – aufgenommen und ggf. in einem Medienbund vernetzt werden können“ (Fachkommission „Fernstudium“ 1994, 4). Auch die Hochschulrektorenkonferenz hat auf die Veränderungen in der Arbeitswelt reagiert und beruft sich auf die im Hochschulgesetz verankerten Aufgaben der Hochschullehrer zur Weiterbildung, wenn sie ein verstärktes Engagement der Präsenzhochschulen in der wissenschaftlichen Weiterbildung fordert. „Dabei ist sowohl an den Einsatz neuer Informationsmedien (Kabel, Satellit, ISDN) als auch an computergestützte Lehr-Lernsysteme zu denken“ (HRK 1993, 11). Die Universität des Saarlandes hat z.B. daraufhin dem bisherigen Studienzentrum eine neue Abteilung Weiterbildung zugeordnet. Es steht allerdings zu befürchten, daß auch diese Initiative aus den selben Gründen scheitert wie der Vorstoß Anfang der 70er Jahren. „Weil sich die Hochschullehrer aufgrund fehlender Anreize nicht in dem gewünschten Umfang beteiligten“ (Wissenschaftsrat 1992, 39), wurde die damalige Initiative bereits 1974 wieder eingestellt und im gleichen Jahr die Fernuniversität Hagen gegründet. Aber auch in der heutigen Konzeption gibt es für die einzelnen Fachbereiche i.d.R. keine Anreize oder Finanzierungsmöglichkeit dafür, Material für ein Fernstudium neben ihren üblichen Lehrverpflichtungen und Forschungsaufgaben zu entwickeln. „Generell gilt für Die Förderung von weiterbildenden Studienangeboten der BLK-Beschluß vom 5.11.1990 zur „Weiterbildung im Hochschulbereich“. Danach muß sich die wissenschaftliche Weiterbildung durch Entgelte selbst tragen. Deshalb wird bei Fernstudienprojekten lediglich die Entwicklung von Weiterbildungsangeboten im Sinne einer Anschubfinanzierung gefördert“ (BLK 1994, A,4).4 Die Potentiale der IuK-Technologien für die akademische Lehre
Obwohl die Aspektierung der einzelnen Empfehlungen und Entschließungen der verschiedenen Gremien zu den neuen Aufgabenfeldern der Hochschulen und den von ihnen zu ergreifenden organisatorischen Maßnahmen nicht in allen Fällen deckungsgleich sind, ist man sich einig in der Einschätzung, daß der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologie maßgeblich zur Bewältigung der festgestellten Defizite beitragen kann. Die Technologie ist nicht nur Auslöser des Wandels, sondern bietet auch Bewältigungsstrategien an. „The potential for a learning revolution exists“ schreibt Ehrmann (1992), und viele amerikanische Kollegen teilen diese Überzeugungen. Aufgrund der bereits mehr oder weniger realisierten „electronic superhighways“ wird z.B den Studierenden auf dem Campus der Zugang zu Ressourcen außerhalb des Universitätsgeländes ermöglicht und den Studierenden außerhalb des Geländes der Zugang zu Ressourcen auf dem Campus. Aus dem Zusammenführen dieser beiden Strategien ergeben sich neue Potentiale für das Lehren und Lernen, und die bisherigen idealtypischen Vorstellungen von Campus-gebundener universitärer Ausbildung werden damit von ihnen generell zur Disposition gestellt. Die Forderung nach einem Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologie in die akademische Lehre in grundständigen Studiengängen an Präsenzhochschulen in Form computergestützter Lernsoftware und on-line education ist also nicht ausschließlich eine technikinduzierte Entwicklung, sondern trifft auf einen Bedarf, der aus der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Gesellschaft resultiert. Die traditionelle Campus-Universität rechtfertigt sich über die bisherige Zeit- und Ortsgebundenheit der Informationsressourcen wie Bücher, Vorlesungen und Laboratorien. Aus der Limitierung dieser Ressourcen ergeben sich bei Steigerung der Nachfrage, bzw. bei der Zunahme der Anzahl der Studierenden, Engpässe, die u.a. in einem Qualitätsverlust der Lehre münden. Zugang und Qualität erscheinen dabei als zwei sich ausschließende Bedingungen. Bei einer Bestandsaufnahme der derzeitigen Umfeldveränderungen ist desweiteren die sog. Wissensexplosion zu nennen. Auch bei einem kritischen Umgang mit diesem Begriff ist doch zu konstatieren, daß mit der Zunahme der relevanten wissenschaftlichen Ressourcen die Möglichkeit, diese lokal, d.h. auf dem Campus, zur Verfügung zu stellen, geringer wird. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Entwicklung der jeweiligen Hochschulen in den vergangenen Jahrzehnten, die u.a. in einer Ausdifferenzierung der Angebotsspektren von Fakultäten und Fachrichtungen bestand, in dieser Art aus Kostengründen weitergeführt werden kann. Die Kopplung der Personal Computer an ein weltweites Netz wird von Wissenschaftlern auf dem Campus derzeit vordringlich für die Recherche in Datenbanken und elektronischen Bibliotheken sowie zur Kommunikation mit Kollegen genutzt. Auch den Studierenden auf dem Campus steht der Zugang zu entsprechenden Rechnern – in unterschiedlichem Ausmaß je nach Universität – zur Verfügung. In der Regel erfordert dieser Zugang die Anwesenheit auf dem Campus, und dies nicht aus technischen Gründen, sondern weil die Ausstattung der Haushalte mit PC und Modem in Deutschland (noch) nicht selbstverständlich ist.4.1 Computer-Mediated Communication (CMC)
Einige amerikanische Kollegen haben nun seit einigen Jahren damit begonnen, verschiedene Formen der computer-mediated communication (CMC) in ihre Lehre zu integrieren. Die sog. on-line education basiert derzeit vor allem auf den Diensten: E-Mail, Computerconferencing (asynchron und synchron) und on-line Datenbanken. Obwohl es sich dabei um drei Dienste handelt, die sich in unterschiedlichen Märkten mit unterschiedlichen Nutzergruppen entwickelt haben, definieren sie zusammen eine Unterrichtsumgebung, die die traditionellen Formen der Wissensvermittlung unterstützen. Die Erfahrungsberichte betonen in diesem Zusammenhang pädagogische und soziale Aspekte. Hervorgehoben wird besonders die Textbasiertheit der Kommunikation und die daraus resultierende Schulung des schriftlichen Ausdruckvermögens. „(…) the discipline of beeing obliged to formulate one’s ideas, thoughts, reactions, and opinions in writing in such a way that their meaning is clear to other people who are not physically present, is of key importance in the majority of educational programmes“ (Kaye 1989, 10). Unterrichtstheoretiker und Praktiker, die der Diskussion und der Gruppenarbeit in der Lehre einen hohen Wert beimessen, berichten von ausgeglichenerer Beteiligung der Teilnehmer an einer Diskussion und gehaltvolleren Beiträgen. Zurückzuführen ist dies – im Vergleich zur face-to-face Diskussion – einerseits auf eine Verminderung der zeitlichen Restriktion zur Formulierung einer Antwort. Andererseits iniziiert die schriftliche Niederlegung eine sorgfältigere Formulierung. Gehemmte Personen beteiligen sich mehr, weil sie weniger Angst haben sich zu artikulieren, z.B. keine Angst mehr vorm Stottern haben, und ihre Umgebung insgesamt als weniger bedrohlich empfinden (vgl. Ehrmann 1992). Die Meinungsbeiträge werden insgesamt als offener eingestuft. Außerdem erlaubt das Netz die Einbeziehung Dritter, z.B. von Experten, in die Diskussion (Ehrmann 1992). Ergebnisse von Recherchen im Netz können in einem elektronischen Handapparat abgelegt werden, auf den jeder Teilnehmer der Gruppe Zugang hat. Die hier skizzierte computer-mediated communication eignet sich besonders zur Umsetzung der pädagogischen Forderung nach einem Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse des einzelnen Schülers. Der Lehrer ist Teilnehmer und selbst Lernender bei einer Diskussion, und kann doch, sobald ein Beitrag einer Kommentierung bedarf, seine Funktion als Lehrer und Mentor ausüben, oder mit dem jeweiligen Verfasser per E-Mail in persönlichen Kontakt treten, der dann unbeeinflußt von der Gesamtgruppe stattfinden kann. Coombs (1992) berichtet von der Erfahrung, daß er als Lehrer wohl wußte, daß alle Studierenden über dasselbe Unterrichtsmaterial verfügten, als Beobachter wurde ihm bewußt, wie sehr die einzelnen Studierenden ihre individuellen Bedürfnisse und Vorkenntnisse in Zusammenhang mit den gegebenen Informationen einbringen. „Through these interactions, I developed a deeper understanding of each learner’s uniqueness. Different students learn the same material in different ways, each bringing a varying amount of previous information to the subject and having different information needs“ (a.a.O, 5). Ein Resultat dieser Einsicht ist eine Veränderung des Selbstverständnisses der Lehrer, bzw. Dozenten. Sie sind nicht die, die alles wissen oder wissen müssen. Ihre Aufgabe besteht darin zu zeigen, wie man lernt, und sie geben Hilfestellung beim Erreichen der Unterrichtsziele unter Beachtung der individuellen Lernwege. Sie unterstützen den Lernprozeß mit Hinweisen auf Informationsquellen und deren Beurteilung hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und Nützlichkeit und vermitteln ihren Studierenden die Fähigkeit, “ to ask the right questions“ (Hess 1994). Computer-mediated communication eignet sich desweiteren als Beratungs- und Betreuungssystem. Studierende, die Fragen zum Unterrichtsmaterial, zur Veranstaltung oder zu der ihnen übertragenen Aufgabe haben, versuchen heute, diese Probleme am Telefon oder in der Sprechstunde zu klären. Werden diese Fragen, die oft gleichen Inhalts sind, in der Gruppe besprochen, muß der Dozent das Problem nicht mit jedem einzelnen durchgehen. Die Feststellung der Teilnehmer, daß auch andere Probleme haben, mag dabei motivierend wirken. Während man bei der telefonischen Kontaktaufnahme Gefahr läuft, daß der Angerufene gerade intensiv mit anderen Dingen beschäftigt ist, bietet die asynchrone Computer-Kommunikation gegenüber dem Telefon für Fragende und Antwortende außerdem den Vorteil des selbstgewählten Zeitpunktes der Bearbeitung. Im Zusammenhang mit den Fragen nach der Akzeptanz einer neuen Technologie oder eines neuen Dienstes haben wir längst gelernt, daß es dabei nicht um ja oder nein geht, sondern um die Einsatzmodalitäten. Selten haben wir es mit einer Killer-Technologie zu tun, die eine bestehende Technologie substituiert. Selbstverständlich wird die computer-mediated communication weder telefonische Kontakte mit ihren Vorteilen der Spontanität und des informellen Charakters noch persönliche Treffen und Gruppensitzungen, wie z.B. Seminare ersetzen. Auch die Papierform einer Seminararbeit eignet sich – zumindest zur Zeit – für Korrekturen und Anmerkungen des Dozenten wesentlich besser als ihr elektronisches Pendant.4.2 Computer-Based Training (CBT)
Ein weiterer Schritt ist der Einsatz von computer-based Training (CBT) in Form verschiedener Lernsoftware von einfachen Drill-and-Practice Programmen bis zu intelligenten tutoriellen Systemen mit interaktiven Merkmaldimensionen, stand-alone oder als Tele-CBT integriert in eine Computer-mediated communication. Aufgrund der Leistungskapazität der derzeitig verfügbaren Netze in Deutschland ist dies allerdings eine eher Campus-gebundene, bzw. ortsgebundene Lehr- und Lernform, die an den Hochschulen der USA und auch bei uns in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung schon eine gewisse Verbreitung gefunden hat , aber in der Ausbildung an deutschen Hochschulen bisher keine nennenswerte Rolle spielt.5 Problembereiche
5.1 Bedarf und Versorgung
Insgesamt kann festgestellt werden, daß die Informations- und Kommunikationstechnologien in der Lehre weder in die Schule noch in die Hochschule Eingang gefunden haben. Parisi (1992) konstatiert in diesem Zusammenhang eine Krise des Bildungssystems von historischem Ausmaß, das sich abkoppelt von einer Gesellschaft, in der zunehmend alle Lebensbereiche von Technologie durchdrungen werden, und das demgemäß nicht mehr bedarfsgerecht ausbildet. Verantwortlich dafür sind falsche Entscheidungen im Bereich der Wirtschaft, der Politik und der Wissenschaft. Investitionen in Forschung und Entwicklung der Lerntechnologie werden v.a. von der Industrie bei Problemen mit dem Arbeitskräftepotential hinsichtlich spezifischer aufgabenbezogener Qualifikationsanforderungen getätigt. Der Einsatz entsprechender Systeme in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung erklärt sich demnach aus dem Umstand, daß sie den situativen Erfordernissen und dem Aufgabenkontext, z.B. Lernen am Arbeitsplatz, angepaßt werden können, der Forderung nach einem just-in-time Lernen entgegenkommen und bei großen Unternehmen mit hohem Schulungsbedarf Rentabilität versprechen. Da sich aufgrund der Kosten- und Zeitintensität bei der Entwicklung entsprechender Programme die Verbreitung v.a. an wirtschaftlichen Kriterien orientiert, gibt es keine Entsprechung zwischen dem objektiven Bedarf an Lernprogrammen in einem bestimmten Bereich und der vorhandenen Versorgung, stellt auch das IAO (1994) bei einer Bestandsaufnahme multimedialer Lernprogramme fest. Die für spezielle, sich aus dem Arbeitsprozeß ergebende Aufgabenstellungen entwickelte Lernsoftware inclusive Lernumgebung garantiert keine generelle Übertragbarkeit auf andere Inhalte, insbesondere Inhalte und Kontexte der akademischen Lehre. Eine bevorzugte Beforschung des betrieblichen Einsatzes korrespondiert mit einer Vernachlässigung des Bereichs von Lehren und Lernen in Schule und Hochschule.5.2 Interdisziplinäre Forschung
Damit die neuen Technologien die ihnen zugeschiebenen Potentiale der Steigerung der Effektivität und Effizienz für Lernprozesse realisieren können, bedarf es weiterer Forschung, zu deren verstärkter Teilnahme auch die wissenschaftlichen Disziplinen aufgefordert sind, die sich dieser Thematik erst zögerlich zugewendet haben. Auch heute besteht noch ein Ungleichgewicht zwischen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen und den technischen Disziplinen, die den größten Beitrag bei der Entwicklung der Lerntechnologie leisten. Die Anwendungen folgen deshalb eher den technikimmanenten Möglichkeiten, als den Bedürfnissen der Lernenden, soweit wir denn über diese Aussagen machen können. Längst gehen wir mit dem Begriff von der künstlichen Intelligenz distanzierter um und wissen um die Grenzen entsprechender „intelligenter“ Lernsysteme, die vor allem darin bestehen, daß sie nur sehr begrenzte Fähigkeiten der Orientierung auf den Menschen aufweisen (vgl. Gödert/Kübler 1993). Die Einsicht, daß der Stand der derzeitig entwickelten Lerntechnologie die von vornherein oft zu hoch gesteckten, vor dem Hintergrund der Komplexität der menschlichen Informationsverarbeitung unrealistischen Erwartungen nicht erfüllen, sollte dabei nicht in einer negativen Einschätzung dieser Technologie insgesamt münden. Es erfordert vielmehr eine Analyse der Einsatzmodalitäten, d.h. die Bearbeitung der Fragestellung, was, d.h. welche Inhalte, wem, d.h.welcher Nutzergruppe, wann, d.h. in welchem Nutzungskontext, wie, d.h. mit welcher Technologie, vermittelt werden sollen. Zur Evaluation von Effektivität im Sinne von Wirksamkeit der Wissensvermittlung und Effizienz im Sinne einer Kosten-Nutzen-Relation müssen optimale traditionelle Formen des Lehren und Lernens mit computerunterstützten Lernformen verglichen werden (vgl. Glowalla et al. 1992; Graves 1994). Ziel der Evaluation ist dabei die generelle Erforschung der Lernmedien, die Ergebnisse dienen vorrangig der Weiterentwicklung und Verbesserung von Lernsystemen (vgl. Jöns 1992). Die Aufgabe besteht in einem Zusammenführen der bisherigen Forschungsergebnisse der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und darauf aufbauend in der Integration in fachspezifische Curricula.5.3 Curriculumentwicklung
Hier eröffnet sich allerdings bezüglich der akademischen Lehre ein weiterer Problembereich, es fehlt eine methodisch-didaktische Konzeption der Wissensvermittlung. Dies hat historische Gründe und wurzelt in einem Verständnis von Wissensvermittlung in Form partizipativer Einbindung des Lernenden oder „Lehrlings“ in den Forschungsprozeß durch den „Meister“. Dieses Modell hat sich an der damaligen Zielsetzung orientiert, den „Lehrling“ zu befähigen, in die Fußstapfen des Meisters als Forscher zu treten. Heute stehen wir allerdings vor der Situation, daß vierzig Prozent eines Jahrganges sich für eine Ausbildung an der Hochschule entscheiden, um sich für Aufgabenfelder zu qualifizieren, die nicht in wissenschaftlicher Forschung und Lehre bestehen. Die Zielsetzung der Ausbildung hat sich verändert, das Ausbildungmodell im wesentlichen nicht. Das Fehlen von Fachdidaktiken in der akademischen Lehre wird auch von Seiten derer als Defizit herausgestellt, die sich mit der Implementierung von Informationstechnologien in die Wissensvermittlung beschäftigen. So stellt Grund (1993:83) im Rahmen des WINGS-Projektes (Wissensvermittlung und Informationstechnologien in den Geistes- und Sozialwissenschaften) fest: „Jeder Dozent erwirbt im Laufe seiner Lehrjahre ein fundiertes Wissen davon, was sich bei der Unterstützung studentischen Lernens bewährt hat. Doch leben wir in einer akademischen Lehrkultur, in der dieses Corpus von Erfahrungen weder ausgetauscht, noch, wie im Bereich der Forschung selbstverständlich, interpersonell ausgetauscht wird. Insofern kann WINGS nicht auf eine ausgearbeitete Methodik akademischer Wissensvermittlung zurückgreifen“.5.4 Institutionelle Unterstützung
Die Technologie kann aber ihre Potentiale nur entfalten, wenn sie nach methodisch-didaktischen Gesichtspunkten eingesetzt wird, und dies ist nicht die Aufgabe der Rechenzentren, sondern dies muß vor Ort, d.h. bei den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen erfolgen. Anforderungen an die Leistungen einer entsprechenden technischen Infrastruktur müssen interdisziplinär ausgehandelt, und brauchbare Werkzeuge, d.h. Instrumente, Programme und Dienste für eine Hochschuldidaktik entwickelt und bereitgehalten werden. Damit dies aber geschehen kann, bedarf es der institutionellen Unterstützung, die die Aktivitäten der an diesem Prozeß Beteiligten fördert und bündelt. In diesem Zusammenhang werden sich neue Aufgabenbereiche und Funktionsverschiebungen entwickeln, die organisatorische Neuordnungen nach sich ziehen, z.B durch das Zusammenführen von Rechenzentrum, Medienzentrum und Bibliothek zu einer Serviceeinrichtung. Die Aufgaben der Hochschulen erschöpfen sich nicht nur im Zurverfügungstellen der technischen Infrastruktur, sondern verlangen ein Beratungs- und Betreuungssystem hinsichtlich ihrer Nutzung für die Studierenden, aber auch für die Dozenten. Besonders in der Literatur aus den USA wird die Notwendigkeit von Schulungen und Servicezentren betont, die die Dozenten mit der Technologie vertraut machen und den Einsatz in der Lehre unterstützen (vgl., Hofstetter 1992; Fitzgerald/Olsen 1993).5.6 Stellenwert der akademischen Lehre
Cavalier (1992) hält – angesichts der derzeitigen Situation ein eher blauäugiges – Plädoyer für die Erstellung von „courseware“, d.h. für die Aufbereitung des Materials, z.B. in Form eines Hypertextes, für einen speziellen Kurs oder Vorlesung durch den Dozenten. Er geht davon aus, daß die Aktivitäten der Wissenschaftler in der Lehre, die bisher in der Karriere – im Gegensatz zur Forschung – eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben, in Zukunft einen anderen Stellenwert einnehmen werden. Er prophezeit sogar eine gegenläufige Entwicklung: wer sich nicht mit der Funktion des Computers für Forschung und Lehre beschäftigt, wird seine wissenschaftliche Karriere riskieren.6 Fazit
Auch dieser Aussahe liegt die Überzeugung zugrunde, daß der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologie die akademische Lehre verändern wird, und damit auch die Funktionen und Rollen der daran Beteiligten. Unter der Voraussetzung, daß die Raum- und Zeitgebundenheit in der universitären Ausbildung zunehmend geringer wird, geraten nicht nur neue Adressatenkreise in die Diskussion, sondern die Leistungen der Hochschule insgesamt. Der auf den ersten Blick rein bildungstechnologische Aspekt ist eng verknüpft mit bildungspolitischen Konzepten. Die Veränderungen der Aufgaben, Funktionen und Leistungen von Hochschulen als einem Bestandteil unseres Bildungssystems führen gleichzeitig zu Änderungen in institutionellen Organisationsformen und zu Änderungen in den derzeitigen wechselseitigen Zusammenhängen der einzelnen Elemente im Gesamtsystem. Graves vergleicht in diesem Zusammenhang das Bildungssystem hinsichtlich seiner Komplexität mit einem Ökosystem, bei dem die Durchführung von Veränderungen mit dem Ziel einer Verbesserung bei gleichzeitiger Bewahrung des Gesamtsystems die eigentliche Herausforderung darstellt. Bei einer Neukonzeption und Definition von Handlungsbedarf der Hochschulen müssen deshalb unter sozialen und technologischen Gesichtspunkten alle am System beteiligten Personen, Organisationen und Verfahrensweisen berücksichtigt werden. Neben den oben skizzierten Problemfeldern sind desweiteren Ausbildungsförderungskonzepte und die Aufgaben, die den Bibliotheken, der Lernsoftware-Industrie, den Verlage und der Telekommunikationsindustrie in dieser Entwicklung zukommen, neu zu definieren.Literatur
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