Diese Website ist seit dem Ende des Studiengangs Informationswissenschaft
im Juni 2014 archiviert und wird nicht mehr aktualisiert.
Bei technischen Fragen: Sascha Beck - s AT saschabeck PUNKT ch
Drucken

Diskussionsbeiträge

Memorandum zur Rechtschreibreform

Prof. Dr. Harald H. Zimmermann, Saarbrücken

Eingabedatum: 1997-02-28

Die Reform der deutschen Rechtschreibung bewegt immer noch viele Menschen. Dies liegt u.a. an folgenden Problemen:

  • Die Reform wird als überflüssig angesehen, da die Änderungen kaum ins Gewicht fallen.
  • Viele sehen für sich persönlich keinen Anlass, „umzulernen“, zumal dies mit einem gewissen Lernaufwand verbunden ist.
  • Die Medien informierten in der Vergangenheit häufiger unsachgemäß und stellten zudem die Kritik in den Vordergrund.
  • Die Folgekosten sind nicht klar abschätzbar.

1. Zur „Dimension“ (quantitativen Auswirkung) der Änderungen

Die Änderungen fallen quantitativ nicht sehr ins Gewicht. In Fließtexten änder sich etwa 3 % der laufenden Wörter (ohne Trennungen) gegenüber dem herkömmlichen Standard (wobei das Wörtchen „dass“ alleine – absolut gesehen – etwa 0,8 % ausmacht). Bezogen auf die Veränderung von Zeichen sind es weniger als 1 %. Zählt man die Veränderungen bei den (am Rand aktivierten) Trennstellen, liegt der Wert hierzu auch bei etwa 2 – 3 %, soweit es um obligatorische Trennungen (st, ck) geht. Die Konsonantenverdopplung (genauer: der Wegfall der Konsonantenreduktion) betrifft etwa jede tausendste Trennstelle.

Wenn man alleine quantitativ argumentiert hätte, wären allerdings auch die Reform des Jahres 1901 (!) und erst recht alle später praktisch mit jeder DUDEN-Auflage eingeführten Änderungen überflüssig gewesen: Die Standardisierung von 1901 betraf Änderungen bzw. Vorschriften bei etwa so vielen Wörtern / Zeichen wie die jetzt beschlossene Regelung.

Die Quantität kann also kein ausschließliches Argument für oder gegen die neue Norm sein.

2. Zentrales Ziel: Vereinfachung

Fast alle neu gefassten Regeln (die ja nur einen kleinen Teil des neuen Regelwerks ausmachen) dienen der Vereinfachung des bisherigen Standards und der sprachlogischen Nachvollziehbarkeit. Dies gilt besonders für die Stammorientierung; die gesamten Silbentrennregeln sind unter dem Aspekt der Vereinfachung zu sehen, aber auch die Regeln zur Großschreibung. Etwas einzuschränken ist dies bei der Frage der Zusammen- oder Getrenntschreibung, aber auch hier werden entweder Plausibilitätsregeln mit eingebunden oder eine entsprechende Flexibilität (durch vermehrte Zulassung von Alternativen) eingeführt.

Ich gebe nur einige Beispiele: Die wichtigste Regel (hier auch quantitativ gesehen) ist die Neuregelung der „ß“/“ss“-Schreibung. Das „ß“ bleibt erhalten, doch wird der Gebrauch auf die Länge des vorangehenden Vokals bezogen. Zwar verbleibt eine Rest-Unsicherheit (wegen der Aussprache analog zum einfachen „s“ im Auslaut), doch kann man über eine Beugungs-Probe (Wechsel stimmlos / stimmhaft: „Fuß“ bleibt stimmlos: „Fußes“ -, „Gas“ wird stimmhaft: „Gases“ -) die meisten Fälle „absichern“. Auch die Groß- oder Kleinschreibung von Wörtern wie „recht / Recht“ lässt sich sehr einfach mit der Frage „wie“ (Adverb = klein) bzw. „wen oder was“ („Substantiv = großer Anfangsbuchstabe) klären. Die „Substantivierung“ wird generell vereinfacht, wenn dies oft auch eher formale Prüfungen sind (Beispiel: „im Folgenden ist …“ / „im folgenden Falle ist …“).

Viele der Zweifelsfälle und Unsicherheiten (!), die die herkömmliche Norm aufwies, sind damit behoben.

3. Flexibilisierung bei Grenzfällen

Ein Teil der heutigen Verunsicherung bzgl. der Neuregelung kommt interessanterweise dadurch zustande, dass die neue Norm flexibler ist, also mehr Alternativen zulässt. Auch hier zur Veranschaulichung einige Beispiele: Nach der neuen Silbentrennregel kann man etwa (gleichwertig !) alternativ „etymologisch“ oder „nach – einfacher – Aussprache“ trennen (Beispiel: „Päd.-ago-ge“ oder „Pä-da-go-ge“). Bei drei aufeinander folgenden Konsonanten ist die Trennung zwischen bestimmten Konsonanten „erlaubt“, die herkömmliche Regel bleibt aber bestehen (Beispiel: „zen-tral“ oder „zent-ral“). Zumindest in diesem Punkt kann man nicht von neuer Bevormundung sprechen.

Es gib ähnliche Beispiele für bestimmte alternative Neuschreibungen (bekannt ist etwa „Delfin“ als neue Alternative neben „Delphin“ als Vorzugsschreibweise), doch geht die Neuregelung hier nicht so weit, wie es manche Darstellungen in den Medien (s.u.) kolportiert haben: Es war nie ein Thema, die Schreibweise für Fremd- oder Lehnwörter (wie „Katastrophe“ oder „Philosophie“) generell neu zu regeln (etwa im Gegensatz zur Schreibung im Italienischen).

Nur bei einigen wenigen Wörtern wurde aus Analogie-Gründen die Schreibweise neu festgelegt („Känguru“ analog zu „Gnu“) oder wegen der Orientierung an der Stammschreibung vereinheitlicht (Überschwang -> überschwänglich, Hand -> behände …).

4. Zur Kostenfrage

Niemand kann heute genau abschätzen, was die Reform „kostet“. Dies ist auch eine Frage der Einführungsstrategie der am stärksten „betroffenen“ Unternehmen, v.a. also der Verlage. Dafür haben alle eine Übergangszeit von 10 Jahren. Das sollte eigentlich reichen, um sich umzustellen. Man sollte aber auch nicht die Augen schließen und so tun, als könnten beispielsweise die Presse oder der Rundfunk längerfristig noch der herkömmlichen Norm folgen (mag sich beispielsweise DER SPIEGEL auch heute noch anders äußern und die Presse formal auch nicht dazu verpflichtet sein). Eigentlich sollten die Presseorgane darüber nachdenken, dass sie in 5 – 10 Jahren eine junge Leserschaft haben werden, die nur noch die neue Schreibung und Trennung gewohnt ist und über die „alten“ Schreibweisen vielleicht schon die Nase rümpfen wird …

Wer fragt eigentlich heute noch nach den Kosten im Zusammenhang mit der Umstellung der Postleitzahlen? Diese war nur nötig, weil man ein W bzw. O vor der „alten“ Postleitzahl (mit Recht) als diskriminierend empfand. Was wir unseren Kindern und Enkelkindern aber bzgl. der zusätzlichen Lernaufwands mit der Beibehaltung der herkömmlichen Rechtschreibnorm antun würden, ist m.E. mindestens ebenso problematisch, auch wenn die Thematik selbst nicht zu vergleichen ist. Der Umstellungsaufwand wird bald ebenso vergessen sein.

5. Zum derzeitigen Entwicklungsstand

Heute kann man noch nicht mit umfangreichen Erfahrungen oder statistischen Ergebnissen aufwarten. Die Neuregelung ist ja offiziell noch nicht einmal in Kraft; nur in der Schulausbildung wird aufgrund entsprechender Verordnungen bereits danach verfahren. Da ich bereits seit einigen Monaten (als Vielschreiber und Software-Entwickler, s.u.) die neue Norm anwende, denke ich, dass ich in der Lage bin, einen ersten Eindruck wiederzugeben. Da ich zudem in dieser Frage eher „konservativ“ eingestellt bin (also dort, wo es erlaubt ist, „herkömmliche“ Varianten bevorzuge), ist vielleicht meine persönliche Erfahrung ein kleiner Hinweis für die mögliche Verfahrensweise für diejenigen, die heute eher zögerlich bzgl. der persönlichen Umstellung eingestellt sind:

– Da ich bei der Trennung weitgehend die herkömmliche Form (Variante) verwende (also wo es geht, etymologisch trenne), „trifft“ mich nur die „st.“-Trennvorschrift und die „ck“-Trennung. Dies fällt mir gelegentlich „optisch“ zwar noch auf, doch ist dies weniger störend.

– Die Möglichkeit der Abtrennung einzelner Vokale am Wortanfang (A-bend, Feiera-bend) nutze ich einfach nicht. Ich finde diese Möglichkeit unästhetisch, aber auch bisher habe ich Wörter wie „Stiefel-tern“ nicht so (wie angezeigt) getrennt, obwohl dies nach den herkömmlichen Regeln erlaubt war.

– Bei (nach der neuen Norm erlaubten) Alternativen wie „Delphin“ / „Delfin“, „Spaghetti“ / „Spagetti“ hätte ich auch kein Problem (wenn sie im Text bei mir vorkämen), zumal die herkömmliche Schreibweise zugleich Vorzugsschreibweise ist.

– Wirklich spürbar ist die „ß“/“ss“-Regelung, doch da habe ich mich schon so an die neue Form gewöhnt, dass ich gelegentlich schon beim Lesen der Tageszeitung über die „alte“ Schreibweise stutze.

Ich habe überhaupt nur bei einem einzigen Wörtchen Probleme, und dies aus systematischen Gründen: Es handelt sich um das Wort „numerisch“, das wegen der Stammschreibung „nur“ noch „nummerisch“ geschrieben werden darf. Ich denke, man hätte der Aussprache vor der Stamm-Schreibung Vorrang geben oder zumindest die herkömmliche Form als Alternative zulassen können. Mit Einzelbeispielen kann und sollte man aber eine insgesamt sehr gelungene Reform nicht aus den Angeln heben.

6. Was wäre, wenn … ?

Die Kritik an der Reform entzündet sich gelegentlich auch an der Frage der Zuständigkeit der Entscheidungsinstanz und die Berücksichtigung der „Meinung der Mehrheit der Bevölkerung“. Ich denke, dass wir eine Staatsform haben, die uns auch die Chance gibt, Dinge zu regeln, die vielleicht (vordergründig) nicht jeder Person gleich einleuchten. Und es steht auch außer Zweifel, dass die Länder (wie in diesem Falle ja auch in der Vergangenheit schon geschehen) die politische Entscheidungsinstanz (hier durch die KMK) darstellen. Wenn die Rechtschreibregelung eines Beschlusses der Parlamente bedürfte, dann müsste in Zukunft u.U. auch jedes Curriculum durch die Parlamente (oder durch Volksentscheid ?) abgesegnet werden, denn die Inhalte der Allgemeinen Schulbildung wiegen weitaus schwerer als die Normierungen der Schreibweise.

Ein zentraler Punkt wurde in der Diskussion hier zudem viel zu wenig beachtet: Wenn eine Regelung nicht „verfassungsgemäß“ ist (wer auch immer dafür verantwortlich sei), dann die bisherige: de facto hatte nämlich ein Privatunternehmen, das Bibliographische Institut in Mannheim (mit dem Produkt „DUDEN Rechtschreibung“) von der KMK nach dem 2. Weltkrieg ein Monopol erhalten. Wir sprechen heute sehr gern von Deregulierung, aber bei der Neuregelung stand auch dieses Problem auf dem Prüfstein.

Mit der Entscheidung, eine neutrale staatenübergreifende Kommission mit der Normbegleitung zu beauftragen (man könnte von einer Normungsstelle analog zu DIN sprechen) und in Deutschland einem nicht-kommerziellen, renommierten Institut die Federführung zu übertragen, das der (theoretischen wie empirischen) Erforschung der deutschen Sprache satzungsgemäß ausdrücklich gewidmet ist und von Bund und Ländern (Blaue Liste) finanziert wird (Institut für deutsche Sprache, IdS, in Mannheim), hat man ein wichtiges Problem der fachlichen Zuständigkeit sachgerecht gelöst.

Wenn man „zurück“ will, muss man sich also auch fragen lassen: zu welchem Standard denn? Der „alte DUDEN“ kann es nicht mehr sein, die meisten der dortigen Regelungen halten einer qualifizierten Normung zudem nicht mehr Stand. Also müsste erneut eine „neue“ Regelung versucht werden. Dies kann aber nach dem Stand der Dinge kaum anders aussehen als die jetzige Norm. Fündig wird man allenfalls bei Regeln, die noch weiter gehen, etwa der Total-Abschaffung des „ß“ (die Schweiz hat dies sowieso realisiert) oder der Einführung der Kleinschreibung bei Substantiven. Dies hatten einige Wissenschaftler wohl vorgeschlagen, aber dann wäre es aufgrund der (erwartbaren) Stimmung in der Bevölkerung sicherlich nicht einmal bis zu einer Regelung gekommen.

7. Der „Denk“-Ansatz und seine Folgen

Soweit ich dies überblicke, war es die Aktivität einer Einzelperson, die auf der Buchmesse 1996 in einer spektakulären Aktion eine bereits in ruhigeren Gewässern geglaubte Regelung erneut in die Medien brachte.

Natürlich unterstelle ich den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern der Frankfurter Erklärung in keiner Weise, dass sie blauäugig in eine Falle getappt seien. Dazu sind sie als kompetente Literaten und um die Sprache ernsthaft besorgte Experten zu bedeutend.

Aber keiner der Unterzeichner schreibt wohl mehr (wie z.T. vor 1901) noch „giebt „oder „Brod“, sondern nutzt wie selbstverständlich die Schreibweisen der (noch) geltenden Norm. Nun wäre die Welt sicherlich nicht untergegangen, wenn die Reform 1901 nicht geklappt hätte (das wäre 1914 / 18 und 1939 / 45 aus anderen Gründen eher wahrscheinlich gewesen, und derartige Gefahren sind bis heute nicht ganz gebannt).

Da die Norm den Privatbereich nicht betrifft, wird andererseits auch kein Autor gezwungen, nach der neuen Norm zu schreiben. Zudem wird (hoffentlich) niemand fragen, nach welcher Norm ein Roman geschrieben ist, sondern danach, welchen Gehalt er hat.

8. Die Rolle der Medien

Da das Wort hanebüchen „neu“ wie „herkömmlich“ gleich geschrieben wird (da nicht von „Hahn“ abgeleitet), möchte ich es auf die Behandlung des Themas in den Medien anwenden (nicht pauschalierend, versteht sich). Hanebüchen war z.B. ein Beitrag im Morgenmagazin des ZDF, wo munter über die vorgeblichen Neuschreibungen „Katastrofe“ und „Filosofie“ (bis zum „Schäf“- für „Chef“) räsoniert wurde – genau an jenem Tag, an dem die KMK einen Beschluss fassen sollte. Man entschuldigte sich später damit, man sei einer Falschmeldung einer Nachrichtenagentur aufgesessen (ich konnte dies allerdings nicht nachvollziehen).

Die Saarbrücker Zeitung brachte dankenswerterweise (in Fortsetzungsform) eine Übersicht zu den wichtigsten Regeln. Allerdings fiel schon der erste Beitrag dadurch auf, dass die Regeltexte selbst der herkömmlichen Schreibung folgten, ganz abgesehen davon, dass Neuschreibungen durch Tippfehler entstellt wurden („Zierat“ -> „Zierart“ statt „Zierrat“) und Alternativen gelegentlich nicht angegeben wurden (beispielsweise wird der Eindruck erweckt, als würden Wörter wie „Spagetti“ oder „Delfin“ nur noch in dieser Schreibweise erlaubt (obgleich gerade „Delphin“ und „Spaghetti“ Vorzugsschreibungen bleiben), „Getto“ war auch bisher schon neben „Ghetto“ als Variante zugelassen usf. Dass dies alles eher zu Verwirrung beiträgt (ich kann nur aus meinen Erfahrungen zitieren), leuchtet wohl jedem ein. Schade.

Auch die – meist Denk-würdigen – Talkshows zu diesem Thema trugen (und tragen) eher zur Verwirrung denn zur Klärung bei. „Infotainment“ ist durchaus wünschenswert, wenn es nicht zum „Desinfotainment“ wird.

9. Zum Problem der neuen gedruckten Rechtschreib-Lexika

Ich beziehe mich hier (in knapper Form) auf die beiden „Bestseller“ „Bertelsmann“ und „DUDEN“ Rechtschreibung.

Im „Bertelsmann“ ist die Regelung ziemlich formal ausgelegt; allenfalls kann man – wohl wegen des „Zeitdrucks“ einer möglichst raschen Markteinführung – bei einigen Stichwörtern kleinere Fehler nachweisen (was natürlich auch nicht ganz unproblematisch ist, wenn es um ein so sensibles Thema geht).

Der „DUDEN“ dagegen (nach wie vor – trotz des Verlustes des werbewirksamen Zusatzes „Maßgebend in allen Zweifelsfällen“ – vom Image in der Bevölkerung her führend) brachte durch die Präsentation der Einträge im Lexikonteil v.a. bei der Silbentrennung eine eigenständige, vom Regelwerk nicht vorgegebene Priorität ein. So wird bei der Trennung den neuen Trennstellen im Text Vorrang einräumt (also „zent-ral“, „Pä-da-go-ge“); Varianten (hier „zen-tral“, „Päd.-ago-ge“ d.h. die herkömmliche, nach wie vor gleichwertige Trennung) können nur über einen Verweis auf die DUDEN-spezifischen Regeln im Vorspann des Wörterbuchs erschlossen werden. Dies kann m.E. beim Nutzer – fälschlicherweise – den Eindruck erwecken, als sei die im Lexikonartikel angezeigte Trennung zu bevorzugen, ganz abgesehen davon, dass man nur mühsam von den DUDEN-eigenen Regel-Paragraphen zum „offizellen“ Normtext gelangt, der zudem in kleinerer Schrift im Anhang abgedruckt ist.

Ich erwähne dies hier so ausführlich, weil ich denke, dass v.a. die Umsetzung des Regelinventars durch den „DUDEN“ und die Schwachstellen der Erstauflage des „Bertelsmann“ mit zur derzeitigen Verwirrung beigetragen haben. Es gab vielleicht beim „DUDEN“ gute Gründe für die Darstellungsform; man kann v.a. die Kompetenz der DUDEN-Redaktion nicht im Geringsten in Zweifel ziehen, aber eine gewisse Irritation ist beim „Normal“-Leser m.E. dadurch nicht auszuschließen.

10. Wer trägt die Verantwortung, wer wurde gefragt?

Ein von den Reformkritikern gerne gebrauchter Vorwurf ist die vorgebliche mangelnde Beteiligung der gesellschaftlich relevanten Gruppen; hinzu kommen Zweifel an der Zuständigkeit der Entscheidungsinstanz (der Konferenz der Kultusminister der Länder, KMK).

Dass die Absicht, eine Reform anzugehen, nicht frühzeitig den gesellschaftlichen Gruppen bekannt gemacht worden sei, ist absolut falsch. Manchem wird es allerdings so gegangen sein wie mir: Nach den Fehlschlägen der Reformbemühungen in den 60-er Jahren (als man den Rechtschreib-Standard sehr weitgehend reformieren wollte) hatte ich mir – wohl wie viele – von den neuerlichen Bemühungen keinen Erfolg versprochen und – nahm von den Hearings keine Notiz. Im Verlag G. Narr war lange vor der Ausfertigung der endgültigen Regelung ein Entwurf erschienen, der zumindest in wesentlichen Zügen die Strategie der Reformkommission deutlich machte. Die Regelungen waren in einer internationalen Kommission (Länder mit deutscher Sprache oder deutschsprachigen Bevölkerungsanteilen) über lange Zeit erarbeitet worden. In dieser Kommission waren (bzgl. der deutschen Anteils) Vertreter vom Bund und den Ländern wie auch Fachleute. Lange vor der Verabschiedung des Regelwerks gab es Presseerklärungen (etwa des IdS) – mit entsprechender Resonanz auch in den lokalen Zeitungen – mit Hinweisen zu den beabsichtigten Regeln – … man musste eigentlich nur hineinschauen.

Die Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) war und ist zuständig für derartige Regelungen. Niemand hatte dies jahrzehntelang bestritten (das Quasi-Monopol des „DUDEN“ beruht – wie erwähnt – auf einem Entschluss dieses Gremiums zu Anfang der 50-er Jahre). Die KMK und die Ministerpräsidenten haben noch auf einige Detail-Entscheidungen eingewirkt (etwa bezüglich der Dauer der Übergangszeit), ehe dann letztendlich der Beschluss zustande kam.

Eine Mitsprachemöglichkeit war also durchaus gegeben. Sie wurde vielleicht von einigen Gruppierungen nicht ausreichend genutzt, und man sollte für die zukünftige Zusammensetzung der (ja ständigen, die weiteren Entwicklungen begleitenden) Kommission auch ernsthaft überlegen, die „Vielfalt“ an Kompetenz durch entsprechende Repräsentanten noch etwas besser einzubringen. Man kann der Kommission jedoch auf keinen Fall unterstellen, sie wäre zu wenig praxisnah gewesen und hätte das Regelwerk ohne Rückkopplung mit der Bevölkerung auf den Weg gebracht, ganz im Gegenteil.

Fazit

Ich denke, dass die meisten der „Sorgen“ absolut unbegründet sind, dass die Reform ein gutes Stück Vereinfachung bzgl. der Schreibung, Silbentrennung und Zeichensetzung bringt. In der Übergangszeit lassen sich sicherlich Kinderkrankheiten (wie zwischenzeitlich schon geschehen) noch leicht ausgeräumen. Nur über die praktische Anwendung lassen sich diese aber ermitteln, und ich mache jedem Mut, die Neuregelungen „auszuprobieren“.

Ich wage dabei die Prognose, dass in wenigen Jahren bereits niemand mehr über dieses Thema diskutieren wird; allenfalls wird die Enkelin vielleicht dem Großvater, der gerade einen Brief (am Computer) schreibt, über die Schulter sehen und ausrufen: „O wie habt ihr damals so komisch geschrieben!“

Nachbemerkung zur Person

* 1941; wiss. Ausbildung: 1. Staatsexamen in Germanistik und Geschichte, Promotion in Sprachwissenschaft und Informatik. Professur für nichtnumerische Datenverarbeitung / Informationslinguistik in Regensburg, Professur für Informationswissenschaft in Saarbrücken (bis heute); Forschungen und Entwicklungen (mit Veröffentlichungen) zur maschinellen Sprachanalyse / Übersetzung, zur automatisierten Bürokommunikation, zu neuen Informationstechnologien (Internet); Begründer der SOFTEX GmbH, Saarbrücken; u.a. – seit 1980 – Produkte zur automatischen Rechtschreibkontrolle, zur automatischen Silbentrennung („PRIMUS“) zur maschinellen Indexierung („IDX“), zu mehrsprachigen Lexika. Neueste (im vorliegenden Zusammenhang besonders relevante) Lösung ist die PC-Software „deutsch KORREKT“ mit der Möglichkeit, einen Word-Text sowohl nach der herkömmlichen Norm als auch nach Varianten der neuen Norm rechtschreiblich zu prüfen wie vorzutrennen (ggf. auch „herkömmlich“ nach „neu“ und umgekehrt umzusetzen).

Seit mehreren Monaten wende ich die Neuregelung – unterstützt durch die o.a. Prüfsoftware – beim Schreiben konsequent an (bei Gutachten, Schriftverkehr …). Zudem bin ich fachlich entsprechend vorgebildet: schon meine wiss. Staatsarbeit 1967 ging über die Leistungen der deutschen Zeichensetzung (veröffentlicht als DUDEN-Beitragsheft), meine Dissertation 1972 handelte von elektronischer Lexikografie, in einem frühen Beitrag zu den möglichen Auswirkungen der Einführung der gemäßigten Kleinschreibung habe ich zusammen mit einem Kollegen statistische Untersuchungen zu den dadurch entstehenden neuen syntaktischen Homographien durchgeführt. Umfassende Erfahrungen habe ich mit der Realisierung der Rechtschreibkontrollverfahren PRIMUS (seit 1980) und „deutsch KORREKT“ gewonnen.

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei erwähnt, dass ich nicht Mitglied der Reformkommission war und bin.

*) Adressaten: Fraktionen des Deutschen Bundestages

 

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen